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Fortsetzung Finanzkrise und Moral

1. Finanzkrise

   — Der Übergang zur Währungsreform ist noch nicht klar. Wie soll bei der jetzigen Finanzkrise durch den staatlichen Eingriff  das Zahlungsmittel in Gefahr geraten?
Das ist zu klären. Zunächst zur Sache selbst einige Bemerkungen.
Dem Eingreifen des Staates liegt beim Finanzsektor nicht die Rettung oder das Aufpäppeln einer wichtigen Branche zugrunde, auch wenn diverse Sektoren jetzt mit finanziellen Beihilfen rechnen können, sondern in dieser Branche sind Geschäfte in Gefahr, von denen die Funktionalität der gesamten Geldwirtschaft abhängt. Grundlage ist die Subsumtion der gesellschaftlichen Zahlungsfähigkeit und aller Geldvermögen unter die spekulativen Geschäfte des jetzt zusammenbrechenden Finanzsektors. Auch bei gut laufenden Geschäften kann keine Sparkasse einen Run auf ihre Einlagen überleben, weil diese als abholbare Geldvermögen nicht zur Verfügung stehen, vielmehr in kapitalistischer Mission unterwegs sind. Dass trotzdem alle Zahlungen weiter laufen, ist der Technik des bargeldlosen Zahlungsverkehr zu verdanken. Eine Bank ist zwar Schuldner ihrer Einleger und auf deren Treue angewiesen, dieses Verhältnis beruht aber auf der Zugriffsmacht auf deren Geld. Erst wenn das eingesammelte und weiter verliehene Geld nicht sein Werk tut, kommt ein Einleger überhaupt auf den Gedanken, sein Geld wieder haben zu wollen, was ihm dann aber negativ beschieden werden muss und der Einlagensicherungsfonds des Bundes gefordert ist.  Für die Verschuldung der Banken untereinander ist das normale Kreditieren von Handwerkern nur die Grundlage. Die Banken, die sich wechselseitig Wertpapiere verkauft haben, kommen jetzt zu der Ansicht, diese seien nichts mehr wert. Auch wenn ein Staat mit seinen Bilanzierungsregeln verbessernd eingreifen kann, Problempapiere aufkauft und zwischenparkt, ist eine wechselseitige Kündigung der Einlagen nicht zu verhindern. Im Zuge dieser fortlaufenden Offenbarungseide gibt es Episoden, die dies entschieden beschleunigen. Zunächst sollten vereinzelte Rettungsaktionen den Handel unter den Banken wieder anschieben, bis sich herausstellte, wie viele Betroffene es gab und gibt.  Die Prämisse hierzu war die Überlegung, es läge nur am Willen und Vermögen der Finanzinstitute, ihren Handel untereinander einzustellen und nicht daran, dass die gehandelte Ware durch die Aussetzung des Handels schon wertlos geworden ist. Das ist die Aufforderung, einander wieder zu vertrauen, die Banken könnten miteinander handeln, wenn sie nur wollten. Tatsächlich steht eine Entwertung der Wertpapiere an, mit denen Banken sich refinanzieren und ihr Geschäft machen. Weil das gesamte restliche Vermögen der Gesellschaft sich ebenfalls bei den Banken befindet, droht eine Annullierung aller gesellschaftlichen Geldvermögen. Wenn der Staat den Finanzinstituten 700 Mrd. Euro in Aussicht stellt, sollen damit nicht die Spareinlagen des kleinen Mannes gerettet werden, was schon ein Nebeneffekt sein mag, vielmehr sollen die Banken instand gesetzt werden, ihr Geschäft weiterzuführen. Das weitere Funktionieren des Geldsystems impliziert die Aufrechterhaltung der Funktionalität der Sparer und Kontoinhaber, die auch Subjekte dieser Geldwirtschaft sind.
Als die Iren 400 Mrd. zur Rettung ihres Bankensektors in Aussicht stellten, wurde dies vom Rest Europas zunächst scharf verurteilt. Kurze Zeit später war ein europäisches Rettungspaket schon im Gespräch, das wiederum von der deutschen Regierung vehement abgelehnt wurde. Eine nationale Abwicklung war gefragt. Die 500 Mrd., die die deutsche Regierung dann zur Verfügung stellte, 400 davon, um den Banken ihre faulen Schulden abzukaufen, 100, um sich in Banken „einzukaufen“, sind der Ersatz für durchgestrichenes Geld. Der Staat gleicht schlechte Schulden durch Ziffern, die er als seine Schulden verbucht, aus. Das ist keine „Verwüstung“ der nationalen Währung durch eine Inflation in dem Sinne, der Staat gibt für seinen Konsum – Waffen, Infrastruktur, Beamte, ...  – Geld aus und bläht damit die Kaufkraft auf. Diese Ziffern erhöhen zunächst nur die staatlichen Schulden, mit denen die Banken dann weiter wirtschaften können. Ob die Banken darauf neue Kredite nehmen und die gesellschaftliche Zahlungsfähigkeit aufblähen ist noch die Frage; das Metier der Banken ist eher das Spekulieren. Die neuen Staatsschulden unterliegen ebenfalls laufend einer kritischen Begutachtung durch das Finanzkapital, das gerade gerettet wird. Darüber können dann Währungen ins Gerede kommen. Die gleichen kritischen Fragen bezüglich der zwischen den Banken gehandelten Wertpapiere werden auch bezüglich der staatlichen Wertpapiere gestellt.
   — Worin hat ein Nationalkredit sein Maß? Einerseits gilt er in der gesamten Warenwelt in dem staatlich festgelegten Bereich, eine Inflation steht hier nicht zur Debatte. Andererseits hat er sein Maß an anderen Nationalkrediten, wie diese an ihm. Zur Zeit läuft eine Konkurrenz darum, welcher Staat am zuverlässigsten für seinen Nationalkredit einsteht.  Die Bonität einer Währung hängt offenbar nicht davon ab, wie pfleglich Nationen mit ihren Währungen umgehen, sondern in welchem Maße sie sich bereit erklären, für die Schulden ihres Finanzsektors gerade zu stehen.
Man muss den ökonomischen Gehalt dieser Staatsverschuldungen ernst nehmen. Staaten verlangen Vertrauen in Schulden, die nicht dem Wachstum des Finanzsektors dienen, sondern der Aufrechterhaltung der gerade wertlos gewordenen Kreditmasse. Nicht der Staat, der sich am meisten traut, ist der vertrauenswürdigste, vielmehr wird dieser Widerspruch, viel Geld ins Spiel zu bringen, das gar nicht dem Wachstum dient, überprüft. Zur Rettung der Finanzwelt macht der Staat Angebote, bei denen er darauf angewiesen ist, dass diese auch angenommen werden. Wie ein Staat diesen Schadensfall übersteht, ist nicht ausgemacht.
   — Einem Staat werden nach wie vor Papiere abgekauft im Vertrauen darauf, dass dieser Zinsen zahlen und sie auch zurückkaufen kann. Ungarische Staatspapiere will allerdings inzwischen niemand mehr haben.
Bei der Spekulation auf Staatspapiere ist neben dem Kriterium, wie ein Staat diesen Schaden übersteht, auch dessen politischer Kredit ein solches. Manchen Staaten, aus denen inzwischen Kapital abgezogen wird, wird deren Umgang mit der Krise nicht mehr abgekauft. Unter dem kritischen Gesichtspunkt, in welchem Land Finanzinvestitionen noch sicher sind, leiden nicht nur die üblichen Kandidaten, auch manche Hoffnungsträger im Osten oder auch Südkorea und Russland geraten in große Schwierigkeiten. Die Sortierung der Staaten ist im Gange, an Europa gut zu erkennen: Der Euro ist plötzlich 15 Prozent weniger wert.
   — Die Finanzwelt betrachtet die Staaten, wie sie bei ihrem Streit um die Abwicklung der Angelegenheit vorkommen und beurteilt danach deren Geld, nicht nach deren militärischer Potenz.
Man ist hier mit dem Phänomen der Finanzwelt konfrontiert, dass die Spekulanten eine Wertbewegung herstellen, bei der die Bewegung selbst die Spekulation anreizt. Die Spekulanten achten darauf, wie viel Eindruck ihnen der Gang der Dinge macht. Diese Spekulation der Staatenbeurteilung bezieht sich schon auf die nationalen Ökonomien als Veranstaltung der zuständigen Staatsgewalt, um in der Konkurrenz der Nationen etwas für ihren nationalen Wirtschaftserfolg zu tun. Die Euro-Länder betreffend erkennen die Spekulanten den Widerspruch, dass 15 Länder sich ein und desselben Geldes bedienen bei gleichzeitiger unerbittlicher Konkurrenz der Staatshaushalte. Die von Frankreich eingeforderte Solidarität wurde von Deutschland prompt zurückgewiesen. Demgegenüber ist die USA wohlgeordnet: ein Staat – ein Geld. Die Fortdauer der nationalen Haushalte bei gleichzeitiger Benutzung eines Geldes ist ein Stück weit die Kündigung der Gemeinsamkeit, wie der Auftakt dazu, keinen gemeinsamen Fonds aufzulegen. Der Euro soll nicht jedem Staat gleichermaßen zur Verfügung stehen heißt die Botschaft.
Man erinnere sich nur an den Stabilitätspakt, diesen funktionalistischen Versuch, die Konkurrenz der Haushalte mit einer gleichgeschalteten Zwangsbewirtschaftung des Geldes zu koordinieren. Jetzt ist dies storniert, aber das dahinter steckende Prinzip, dass die Stärksten dieses Bündnisses den Schwächeren eine freie Benutzung des gemeinsamen Geldes versagen, ist jetzt mehr in Kraft denn je. Ob und wann dies zu Konsequenzen führt, darüber soll nicht spekuliert werden. In allen Ländern aber wird angesichts der Frage, wie die internationale Finanzmafia auf unsere nationale Schuldenexplosion reagiert, gefragt, was denn das eigene Geld noch wert sei. Diese Frage spitzt sich in Europa noch sehr entschieden als Konkurrenzfrage zwischen den beteiligten Euro-Ländern zu. Ob irgendwann eine neue Sorte Normalität einreißt oder ob beim nächsten Schub der Finanzkrise endgültig die Fragen aufkommen, wer Zugriff auf den Euro und seine explosionsartige Vermehrung durch Staatsschulden hat, wird man wohl noch erleben.
Wo die Finanzkrise logisch übergeht in eine Konjunkturphase der allenthalben fehlenden Kaufkraft, des Zusammenbruchs der Warenmärkte, und die Staaten darauf reagieren, hat man die nächste Abteilung Konkurrenz und die nächste Eskalation des Widerspruchs innerhalb Europas: jetzt Haushaltskonkurrenz und Konkurrenz in Sachen Standortförderung im Missverhältnis zu der Materie, mit der man das alles betreibt, nämlich dem gemeinsamen Geld. Das ist die europäische Variante. Andere Länder sind schon mit dem Verfall ihrer Währung konfrontiert, der sie zu der Überlegung zwingt, ob sie noch versuchen sollen, den Wert ihrer Währung zu retten, z. B. der Won Südkoreas. Wiederum andere Länder fragen sich, was mit ihren Guthaben in der ganzen Welt und ihren Währungsbeständen in Dollar anzufangen ist. Es ist ein Armutszeugnis oder ein Charakteristikum der EU, dass es die Rettung der Finanzen eines Mitglieds (Ungarn) dem IWF überantwortet. Das ist die Ausgrenzung eines schwächelnden Mitglieds aus dem Kontext eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes. Es geht jetzt um die Verteilung des Schadens aus diesem Desaster: Wessen Banken gehen kaputt? Ein Euro-Land ginge pleite, kann dies aber gar nicht, weil es Zugriff auf eben diesen Euro hat. Der Standpunkt aller anderen ist aber, Ungarn pleite gehen zu lassen und ihm den ungehinderten Zugriff auf das gute Geld zu versagen. Ganz so weit ist der Irrsinn noch nicht gediehen, nur genau darauf spitzt sich der Widerspruch des Geldes zu. Dazu gibt es eine internationale Finanzwelt, die nach wie vor und einstweilen noch ermächtigt ist, den Vergleich der Währungen vorzunehmen und die Frage praktisch aufzuwerfen, was mit dem Geld der Deutschen ist, wenn andere Länder sich zu ihrem Vorteil dieses Geldes bedienen können. Diese Freiheit gibt es zurzeit noch, Steinbrück hat aber für demnächst ein ganz neues Regime der Weltfinanzmärkte angekündigt. Ob die Freiheit des Währungsvergleichs und der jeweiligen Bewertung dann noch fortbestehen wird, weiß man nicht.
Es ist für sich ein Krisenwiderspruch, wenn in der Konkurrenz der Nationen eine soweit in eine Notlage gerät, dass ihr nationales Finanzwesen zusammenbricht und ihr Nationalkredit international fragwürdig wird. Das betrifft alle anderen Staaten für sich schon, obwohl es ein anderer Nationalkredit ist. Die Banken sind überall unterwegs. Wenn z. B. die Banken innerhalb von zwei Monaten 110 Mrd. Dollar aus Russland abziehen, ist dies ein Fall von drohender Währungsreform. Damit ist die Kreditwürdigkeit des russischen Nationalkredits bestritten, was für sich schon ein Schadensfall ist. Wenn aber, wie bei Ungarn, das betroffene Geld das gemeinsame ist, kann sich keine Nation des Euro-Raumes auf den Standpunkt stellen, im Zweifelsfall würde der jeweils eigene Nationalkredit dadurch gewinnen. Jeder nationale Schadensfall ist bei dieser Euro-Konstruktion zugleich ein Schaden des eigenen nationalen Geldes. Das hindert die verschiedenen Nationen jedoch nicht, sondern beflügelt sie sogar zu fordern und sich einzumischen, wie die jeweils betroffenen Nationen mit dem gemeinsamen Geld umzugehen haben. Die Krise ist also nicht der Übergang dazu, sich enger zusammenzuschließen. Der Beschluss, wegen Schadensvermeidung mit dem gemeinsamen Geld gegeneinander zu konkurrieren, ist der unmittelbar im Geld praktizierte Widerspruch.
Es handelt sich allen Ernstes um eine Geldkrise, um eine Katastrophe der kapitalistischen Zahlungsfähigkeit, die gerade dann, wenn der Staat sie im Interesse der Rettung seines nationalen Kapitalismus steuert, notwendigerweise zu einer Krise seiner Währung führt. Wie diese Krise ausgeht, ist, weil auch immer eine Sache des Vergleichens, eine andere Frage. Es gibt zurzeit niemanden, der wirksam die Schulden der Amerikaner in Gold einfordern könnte. Aber mit diesbezüglichen Analogien  ist sicher zu rechnen.
Währungsreform ist, wenn der Staat dazu übergeht, sich zu entschulden, wenn er mit der Neuschöpfung einer Währung die Streichung seiner Schulden bewerkstelligt. Wenn wie z. B. in Russland der Staat entscheidet, die Konvertibilität des Rubel einzuschränken, handelt es sich um Eingriffe in die bisherige Art der Bewirtschaftung der Welt. Vielleicht kommt das aus der Ankündigung Steinbrücks heraus, die Welt werde hinterher nicht mehr so aussehen wie vor der Krise.
Zu diesem Spruch noch eine andere Bemerkung. Trotz der wöchentlichen Meldungen über das Ende der Krise muss man daran nicht glauben. Die staatlichen Rettungsmanöver sind alle so dimensioniert, mit solchen Summe die wechselseitige Entwertung der Wertpapiere zu stoppen, was den Eindruck erwecken soll, man könne sich in einem solchen Umfang auf den Staat als Garanten dieser faulen Schulden verlassen und mit der Produktion und dem wechselseitigen Handel von Wertpapieren fröhlich wieder loslegen. Andererseits ist dieses Programm, den Finanzsektor darüber zu retten, seine faulen Schulden in gute, solide Staatspapiere zu verwandeln, auf das Gegenteil dessen berechnet, was Steinbrück angekündigt hat. Nämlich darauf, dass gerade hinter her nicht alles anders ist, sondern alles haargenau so weitergeht wie bisher. Es ist darauf berechnet, die Abwicklung des gesellschaftlichen Zahlungsverkehrs und die Bereitstellung der nötigen Kredite für die ganze Wirtschaft als Bestandteil des großen, über Wertpapiere abgewickelten freien Refinanzierungsgeschäfts der Banken wieder stattfinden zu lassen. Darin liegt zugleich der Haken all dieser Rettungsprogramme. Das zur Verfügung gestellte Geld ist schon darauf berechnet, dass das Spekulieren zwischen den Banken und alles, was die kapitalistische Welt zustande gebracht hat, wieder losgeht. Wenn das alles aber weitergehen soll, sind die 500 Mrd. der Deutschen und auch die 400 Mrd. der Iren bezüglich der Masse an im Weltfinanzwesen kursierenden Wertpapieren, die gerade ihre Entwertung erleiden oder noch vor sich haben, nicht besonders eindrucksvoll. Sollten diese bereitgestellten Summen ernstlich zur Verwandlung der faulen Schulden in gute Staatsschulden in Anspruch genommen werden, würde auch das Zehnfache dieser Summen nicht ausreichen.
Die staatliche Intervention überführt die Krise des Finanzgewerbes, die Entwertung der dort notierten und verbuchten Geldvermögen, durch das Unternehmen „Bremsung“ in eine Vermehrung der Staatsschuld, die die Frage aufwirft, ob dies ein Staat ohne Währungsreform, mit der er sich einmal entschuldet, durchsteht. Der Staat kann doch nicht alle faulen Schulden des Weltfinanzkapitals aufkaufen und selber die ganzen Zinsen zahlen.
   — Wenn ein Staat auf die Kreditwürdigkeit seiner Währung setzt, ist es doch widersinnig, sämtliche Schulden mit einer Währungsreform einfach zu streichen.
Am Beispiel Argentinien sieht man den Widersinn, der ganzen internationalen Welt der Anleger zu sagen, man sei zwar mit 100 Mrd. verschuldet, bräuchte aber ein Abkommen, um auf nur 10 oder 20 Mrd. sitzen zu bleiben und damit wieder kreditwürdig zu werden. Argentinien hat diesen Versuch notgedrungen gemacht. Die Staaten stellen sich hin, machen Rettungsaktionen und sagen, worauf sie spekulieren: In drei Jahren verkaufen sie die schlechten Papiere wieder und dann sieht die Sache gar nicht mehr so schlimm aus. Bei Schweden hat dies sogar schon einmal funktioniert. So bringen einzelne Staaten ihre Nationalkredite in Anschlag. Wie das jeweils ausgeht, soll nicht Sache unserer Spekulation sein. Es reicht, den Widerspruch dieses Unternehmens, die Gefährdung des eigenen Nationalkredits durch solche Rettungsversuche, festzuhalten.
Bei den Euro-Ländern ist auch für sich bemerkenswert, dass sie mit diesen Rettungsaktionen die Banken und die internationale Finanzwelt betören wollen und z. B. Sarkozy zugleich sagt, dass er verhindern will, dass in Frankreich französische Schlüsselindustrien von ausländischem Kapital aufgekauft werden. Weil die französischen Unternehmen gerade so billig sind, fürchtet er, dass z. B. chinesische Staatsfonds diese Situation nutzen und sich in Frankreich einkaufen wollen. Gleichzeitig wollen sie von den selben ausländischen Geldgebern, dass sie die Banken kreditieren. Dieser Widerspruch hängt daran, dass der dort eingesetzte Staatskredit diese Unternehmen am Laufen hält oder sie (wieder) zum Laufen bringt. So etwas leisten sich Staaten innerhalb der Krisenkonkurrenz.
Warum machen Staaten so etwas? Was ist der sachliche Fehler an diesem Getöse um Sozialismus? Die Liberalen, die Rechten und aufrechte Kämpfer für die Freie und Soziale Marktwirtschaft befürchten, dass mit den Staatseingriffen der Sozialismus beginnt, und was sich Links nennt, hofft, dass mit dem Staatseingriff so etwas Ähnliches wie Sozialismus losgeht, dass ihnen die Krise etwas die Revolution abnimmt, die sie eh nicht mehr betreiben.
Dieser Gedanke lebt von der Vorstellung – durch die staatliche Intervention jetzt gerade widerlegt wird –, das Wirtschaften wäre letztlich doch irgendwie eine dem Staat vorausgesetzte Privataffäre, in die sich dann, nachdem es sie, logisch gesehen, erst einmal für sich gibt, der Staat einmischt. Das ist eine Denkweise, die sich sogar in allen Besprechungen der staatlichen Aktivitäten noch findet. Immerzu mische der Staat sich in etwas ein, das in irgendeiner Weise waldursprünglich entsteht, sich in der Privatsphäre der Subjekte abspielt, von freien Individuen ohne Staat mehr oder weniger betrieben wird. Dann greift der Staat als Schiedsrichter in alle Affären als interessierte Machtinstanz ein. Dieses jetzige Rettungsmanöver in Bezug auf die Verhinderung der berühmten Kernschmelze, dass nämlich in Sachen Geldwirtschaft nichts mehr läuft, ist ein Verweis drauf, dass das eben nicht die Wahrheit ist, sondern dass der ganze Kapitalismus angefangen von dem Geld, mit dem er wirtschaftet und es als Zweck der ganzen Sache geht, eine staatliche Veranstaltung ist.
Im K III redet Marx schon von Geld- und Kreditkrisen und von einem Rückfall auf das Monetarsystem. Dabei war auch damals schon nicht an Goldnuggets, sondern an staatlich geprägtes Geld gedacht, aber immerhin an so etwas wie eine Geldware, die als gesellschaftlich produzierte und mit einem ursprünglichen Gebrauchswert ausgestattete Ware etwas ist wie ein Wertding, auf das die Menschen sich beziehen, wenn sie es verdienen wollen. Das ist noch etwas, worauf man vom Kreditsystem aus zurückfallen kann. Diese Geldware war auch damals nicht übermäßig unstaatlich, dieses Äquivalent des Monetaren hat in staatlichen Banken gelegen. Auf diese Geldware als Zirkulationsmasse ist der Kapitalismus dann zurückgefallen, wenn er all sein Kreditgeld gestrichen hat. Neben dieser Geldware gibt es noch so etwas wie Goldschätze, symbolisiert durch Papiergeld, das seinerseits der Staat garantiert. Der Staat tritt dabei in ein Garantieverhältnis zu diesem Goldschatz, den es unabhängig von ihm gibt.
Heute fällt das Banksystem, wenn es mit seinem Kreditgeld nicht mehr über die Runden kommt, darauf zurück, was der Staat als Quelle der Substanz, um die es in dieser Ökonomie geht, leistet, nämlich auf das Geld, das der Staat mit seinem Dekret als Geldzeichen in Wert und Umlauf setzt. Dieses Geldzeichen verweist auf nichts als sich selbst als die Geldmaterie der Gesellschaft, und die hoheitliche Gewalt als seinen Garanten und Stifter. Es ist nicht nur so, dass eine Konkurrenzgesellschaft ohne den Staat, der auf die Konkurrenten aufpasst, undenkbar ist. Hier hat man den zugespitzten Fall, dass das, worauf das Kreditsystem zurückfällt, wenn es seine eigenen Wertpapiere vernichtet, nichts anderes ist als der Staat in seiner Funktion als Geldschöpfer. Und als Geldschöpfer tritt der Staat nie anders in Aktion als über sein Kreditgewerbe. Dieses Geld kommt auf dem Weg in die Welt, dass der Staat das Bewirtschaften des Kredits bedient und untermauert. Es gibt keine Privatkundschaft, die sich in ein unmittelbares Verhältnis zur Staatsbank setzen könnte. Es gibt von Marx den Ausdruck, das Geld ist das reale Gemeinwesen. Das, was diese konkurrierende Menschheit überhaupt in Kontakt treten lässt, womit die Leute ihren materiellen Lebensprozess arbeitsteilig bewerkstelligen, ist das antagonistische Verhältnis des Eigentums, das Arbeiten für die Warenproduktion und das Geldverdienen. Man arbeitet nur für andere, ist von dem erarbeiteten Produkt ausgeschlossen, und um an ein solches Produkt heranzukommen, ist ein Äquivalententausch notwendig. Aller Lebensprozess läuft über Äquivalententausch und dessen Vehikel ist das Geld. Das ist der ganz elementare Begriff der bürgerlichen Gesellschaft. Dieses Ding, dieses reale Gemeinwesen, über das die gesellschaftliche Vermittlung überhaupt stattfindet, ist selber staatliches Produkt. Die Sonderstellung des Finanzgewerbes, das der Staat jetzt meint retten zu müssen, hat darin ihre Grundlage, dass diese Art der gesellschaftlichen Reproduktion, nämlich über das Geldverdienen, immerzu angestoßen, gelenkt und ausgestattet wird mit dem Geschäftsmittel Nummer eins, dem Geld, durch den Staat vermittelt über das Kreditgewerbe. Das Geschäft des Kreditgewerbes ist der Transmissionsriemen, über den der Staat seine kapitalistische Nationalökonomie organisiert. Jetzt schlägt der Zweck und dass der Staat diesen veranstaltet, so auf das Geld, zurück, dass das (Gold- oder Silber-)Bergwerk und Stück Natur, die im Monetarsystem noch stecken, auch noch entbehrlich werden. Heute läuft nichts als die staatliche Gewalt in quantifizierter Form um.

2. Moral

Es gibt viele Bemühungen, die Menschheit mit der Krise geistig zu beschäftigen und sie in Bezug auf diese Katastrophe aufzuregen. Die Bild-Zeitung hat neulich in Form eines offenen Briefes an den Finanzminister einen Kommentar nur mit dem folgenden Hinweis bestritten: „Sehr geehrter Herr Finanzminister! Sie machen über Nacht in  Form eines Blitzgesetzes Hunderte Milliarden für den Bankensektor flüssig. Sie sagen, das müsse sein, weil der das braucht. Wir könnten Ihnen sieben andere Figuren in dieser Gesellschaft sagen, die auch Geld bräuchten und mit viel weniger zufrieden wären. Das ist der Hartz-IV-Empfänger, der nicht weiß, wie er im Winter seine Bude heizen soll; das ist der Student, der seine Studiengebühren nicht zusammenbekommt; das ist die alleinerziehende Mutter, die ihr Kind vom Schulausflug abmelden muss, weil sie sich die 25 Euro nicht leisten kann ... Herzliche Grüße, Ihre BZ.“
Der Artikel notiert in seiner Schilderung der Bedürftigkeit dieser Figuren einen Gegensatz. Insofern gibt es dem Volksempfinden recht („Ich hab’s ja schon immer gesagt ... Alles Lumpen, die im Finanzministerium, die solche Leute vergessen ...“), ist insofern auch keine Vertrauenswerbung für den Staat, landet aber auch nicht bei irgendwelchen Forderungen oder dem Anprangern von Ungerechtigkeit – sie macht ja keine Linkspropaganda –; andererseits wird mit der kommentarlosen Schilderung des Kontrastes (viel Geld für die Banken, wenig für die Bedürftigen) durchaus das Gefühl bedient, dass das nicht sonderlich gerecht sei. Das Zitieren dieser bedürftigen Figuren hat also nicht den Charakter einer Forderung – was soll dann diese Gegenüberstellung von ‚arm und reich’  dem Leser sagen?
   — Sie werden dafür gelobt, dass sie, obwohl es ihnen schlecht geht, sich durchbeißen und dabei brav bleiben.
Sie zu zitieren, hat also den Charakter eines Kompliments an diese Figuren. Sie werden von der BZ zitiert als Repräsentanten des Volkes, die arm, aber ehrlich, dem Staat nicht die Bude einrennen, nicht den Tatbestand der gesellschaftlichen Gier erfüllen, sondern versuchen, zurecht zu kommen. Das ist der Tenor der BZ. Der Artikel ist fertig mit einer Blamage erstens der gierigen Banker und zweitens des Staates, der das auch glatt noch mitmacht. So wird das Volksempfinden bedient. Dem Reichtum, der zwischen Staat und Banken hin und her geschoben wird und der weiter kein Thema ist, wird eine Phalanx von Repräsentanten des einfachen Volkes gegenübergestellt, wobei deren Armut und die Berechtigung ihrer Forderungen als Kompliment daherkommt.
Das heißt nicht, dass in der BZ Artikel verboten wären, die eine Forderung enthalten – vielleicht gibt es bald einen Artikel der Art: „Ihr da oben spielt Krisenfeuerwehr und unsere tapfere freiwillige Feuerwehr hat noch nicht mal genug Wasser zum Löschen – da muss das Geld hin.“ Es muss nur eine Forderung sein, der das Volksempfinden unter dem Motto zustimmen kann, dass dieser oder jener das wirklich verdient hat. Bei diesem Artikel ist das Schöne, dass überhaupt keine Forderung unterwegs ist; weder soll der Finanzminister aufhören, das Geld rüber zu schieben, noch soll er irgendetwas umschichten, sondern er darf sich über hochanständige, arm, aber redlich gebliebene Teile des Volks freuen, ein wunderbarer Beitrag zur moralischen Erziehung der Leute. Dieser Teil des Volkes wird dafür gelobt, seinen moralischen Auftrag wahrzunehmen, gerade jetzt, wo sich alles um das Geld und seine Krise dreht, vorzuleben, auf wen und worauf es in dieser Gesellschaft wirklich ankomme: nicht die Reichen, sondern die redlichen Armen, die tun, was das Ihre ist – die einen kommen mit ihren 345 Euro aus, die anderen erziehen, auch wenn das Geld fehlt etc.
   — Man könnte auch sagen: ein faschistisches Lob der Arbeit.
Nein, das würde anders aussehen. Einem Faschisten würde bei einer alleinerziehenden Mutter eher einfallen: wieso hat die Heim und Herd verlassen? Und beim Hartz-IV-Empfänger: wieso geht der nicht arbeiten?
Übrigens steht dieses dicke Lob überhaupt nicht in Widerspruch dazu, dass in der nächsten Ausgabe der BZ genau die gleichen Figuren wieder auftauchen als welche, die sich zu viel herausnehmen, weil sie Sozialhilfe empfangen, aber gleichzeitig auf Mallorca wohnen oder sonst irgendeinen ‚Missbrauch’ treiben.
Was ist denn, wenn das Volk in all seinen intellektuellen Etagen mit dem Vorwurf an die Spekulanten unterhalten wird, der Grund der Krise liege in deren Gier? Was ist das für ein Beitrag zum allgemeinen öffentlichen Bewusstsein? Denn das will er ja sein, er will eine Erklärung der Krise leisten: wir wissen, woher die Krise kommt, alles Mögliche liegt im Argen, der Staat hat nicht aufgepasst, das Geld war zu billig, aber letztlich waren es die von einem abscheulichen Motiv, nämlich der Gier, getriebenen Typen. Auch solch ein Vorwurf findet Anklang beim allgemeinen Volksempfinden. Was ist die Logik dieses Urteils: die Krise liegt an der menschlichen Gier, die von diesen Figuren ganz besonders ausgelebt wird?
   — Das ist ein Entgegensetzen von Egoismus und Gemeinschaft. Um ihren Egoismus zu befriedigen, vernachlässigen sie ihren Dienst am Gemeinwohl und dann kann die Gemeinschaft nicht klappen.
Ja, das ist ein Beispiel für moralisches Urteilen: man notiert ein Desaster im Gemeinwesen und legt das dem schlechten Verhalten derer zur Last, die man dafür verantwortlich findet. Da ist Gier der Titel für diese Art des Beurteilens, da braucht man über den „Blutkreislauf unserer Wirtschaft“ gar nichts mehr zu wissen, denn die Erklärung liegt schon in der Diagnose sittenwidrigen Verhaltens.
   — Zur Logik von diesem Schluss – er hat zwar die Form von ‚wenn – dann’ (wenn alles so schlecht läuft, dann sind die schuld), aber eigentlich ist das kein Schluss, weil auf den Sachverhalt, dass etwas schief läuft, dieses moralische Dogma angewendet wird.
Das ‚wenn – dann’ verdankt sich meinem mühseligen Versuch zu erklären, wie da gedacht wird, dass also nicht von der Diagnose ‚gierig’ auf irgendwelche negativen Effekte geschlossen wird, sondern dass dieser Effekt dingfest gemacht wird an den Figuren, die man dafür verantwortlich macht und denen dies als Charaktermerkmal zugesprochen wird. Das Interessante ist, dass das Volk, das so empfindet, in der Mehrzahl erst mal gar keinen Schaden erlitten hat, von dem es auf Gier kommen würde – denn das gibt es ja auch, zumal bei Geschwistern, wenn sich beklagt wird, dass die anderen so gierig seien: ein selber erlittener Schaden wird für ungerecht gehalten, mit der allgemeinen Norm der gerechten Verteilung verglichen und im Namen dieses negativ ausgegangenen Vergleichs dem Geschwister als Charaktermerkmal zur Last gelegt. Da hat man noch einen Zusammenhang von einem moralischen Urteil mit einem geschädigten Bedürfnis. Dieser Zusammenhang ist hier gar nicht so einfach auszumachen; ein Moment von Unzufriedenheit darüber, ‚wie es so läuft’, das sich da sein Recht verschafft, ist jedenfalls schon auch mit im Spiel. Das ist eine Art der moralischen Beurteilung des Weltgeschehens, die nur über eine ziemlich große Abstraktion den Zusammenhang mit dem eigenen Schicksal herstellt: Die Gierigen machen den ganzen Laden samt seinem „Blutkreislauf“ kaputt, dessen Funktionieren doch die eigene Existenzbedingung ist. Da kommt eine Art des Beurteilens heraus, die sehr verbreitet ist und von der auch ein nicht geringer Teil der Journaille lebt: da ist einer, der sich nicht ordentlich aufführt. Das berührt ihn zwar persönlich nicht, der Zusammenhang geht also nicht darüber, dass die ihm was vorenthalten an gesellschaftlicher Pflichterfüllung, sondern über die generalisierte Vorstellung: Wenn sich so viele Leute unanständig aufführen, dann ist es kein Wunder, dass in dieser Gesellschaft nicht das passiert, was sich eigentlich gehört.  Oder andersrum: Täten sie, was sich in dieser Gesellschaft gehört, wäre die Welt in Ordnung.
Die Quintessenz des moralischen Urteils ist: Angesichts der eigenen Lebensenttäuschung wird das Urteil gefällt, dass das eigentlich ungerecht ist. Man muss feststellen, dass die Gerechtigkeit, die man sich als Garantiemacht für die eigene Lebenszufriedenheit zurecht gelegt hat, schwer zu wünschen übrig lässt, dass also die Welt in puncto Gerechtigkeit zu wünschen übrig lässt, und das wird an den Figuren, auf die man deuten kann, bebildert. Das Urteil: „lauter Lumpen!“ ist ja nicht das Resultat einer Ermittlung und anschließender Analyse, sondern eine schlechte Meinung: Die Leute tun nicht, was sie sollen, versagen diesen Dienst, wobei man gar nicht sagen kann, die versagen mir ihren Dienst, denn so unmittelbar tun sie einem ja gar keinen Dienst, aber ein Bewusstsein der Abhängigkeit von dem ganzen Laden und dass der insgesamt nicht übermäßig gut funktioniert und das auf die eigene Lebensführung durchschlägt, liegt dem schon zugrunde.
   — Ich verstehe die Logik dieses moralischen Gedankens im Zusammenhang mit der Krise nicht. Da präsentieren sich doch alle als Geschädigte. Zum Beispiel die Gewerkschaften sagen, dass sie durch jahrelangen Lohnverzicht eine Vorleistung erbracht haben, die ja für die Mitglieder auch schon eine gewisse Schädigung dargestellt hat und auf die in der kommenden Tarifrunde noch eins draufgesetzt werden soll.
Wenn man also von dem Beispiel ausgeht, Proleten fordern etwas angesichts ihrer materiellen Schädigung, weshalb sie sogar Warnstreiks samt möglicher Lohneinbußen in Kauf nehmen, und begründen das damit, dass sie redlich geschuftet, auch Verzicht geübt und deshalb das Recht hätten, auch mal mehr Lohn zu verlangen. Was ist das für eine Art des Forderns und der Beurteilung der eigenen Situation – übrigens die häufigere Variante moralischer Beurteilung? Was ist das jetzt für eine Art von Übergang? Sie meinen, sie tun ihrem geschädigten Interesse etwas Gutes, wenn sie sich auf den allgemeinen Wert der Gerechtigkeit berufen und in dessen Namen die Beseitigung ihres Schadens einklagen.
   — Sie gehen davon aus, dass es nicht reicht, einfach zu sagen: wir brauchen mehr Geld. Es muss noch etwas dazu kommen, um ihre Forderung ins Recht zu setzen.
Und wie kommt dieser Übergang zustande, dass einer von seinem materiellen Interesse aus denkt, öffentliche Anerkennung im Namen allgemein anerkannter Normen und Werte sei für das eigene Interesse förderlich? Die allgemein anerkannten Werte schreiben keineswegs vor, dass die Arbeiter mehr verdienen, trotzdem werden sie als Berufungstitel in Anschlag gebracht.
Es ist nicht ganz richtig, dass das Argument: wir brauchen mehr Geld, per se nicht reicht. Das ist ein (bedingt) anerkannter sozialer Titel – man beruft sich darauf, dass das Soziale doch gelte in unserer Gesellschaft. Sie berufen sich auf Verhältnisse, in denen es anerkannte Interessen gibt. Dass das immer bedeutet, dass diese damit festgelegt, beschränkt, einsortiert und von etwas abhängig gemacht werden, ist klar, aber so existieren sie und darauf berufen sich die Proleten, wenn sie mehr Geld verlangen.
Zum Schluss noch ein Hinweis auf die Grundlage des ganzen Moral-Geweses, mit der sich auch das vorliegende Papier auseinandersetzt: Es handelt sich um die Erfahrung des Rechts, dass jemand, wenn er sagt: „Ich brauche das“, dies gleich denkt unter dem Gesichtspunkt: wenn ich das brauche, dann ist das schon mehr als ein bloßes Bedürfnis, dann ist es das Bedürfnis eines ehrenwerten Mitglieds dieser Gesellschaft, also etwas, das in dieser Gesellschaft anerkannt ist. Dies lebt von der Erfahrung, dass hierzulande alle Bedürfnisse unter dem Gesichtspunkt ihrer Anerkennung als Recht vorkommen, wobei im Recht immer beides drinsteckt: Anerkennung und Beschränkung, und ein moralisches Individuum ist sein Leben lang vollauf damit beschäftigt, mit diesem sich laufend fortentwickelnden Verhältnis zurecht zu kommen.
   — Daher kommt das Sich-Selber-Immer-Relativieren, also die Relativierung in der eigenen Forderung zu antizipieren, indem man sie untermauert mit der Berufung auf andere gesellschaftlich anerkannte Interessen, die die eigene Forderung gerecht machen sollen.
Das ist im Endergebnis richtig, aber es kommt jetzt darauf an, sich nacheinander die von dieser Erfahrung des Rechts her jeweils fälligen Übergänge klar zu machen.