Gleichheit
1. „Gleichheit“ ist eine bürgerlich-revolutionäre, also vorkommunistische Forderung.
„Gerechtigkeit und Gleichheit der Rechte, das sind die Grundpfeiler, auf die der Bürger des 18. und 19. Jahrhunderts sein Gesellschaftsgebäude errichten möchte über den Trümmern der feudalen Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten und Privilegien.“ F. Engels, Vorwort zu ‚Elend der Philosophie’, MEW 21, 179.

„Die Vorstellung, dass alle Menschen als Menschen etwas Gemeinsames haben, und so weit dies Gemeinsame reicht, auch gleich sind, ist selbstverständlich uralt. ...
In den ältesten, naturwüchsigen Gemeinwesen konnte von Gleichberechtigung höchstens unter den Gemeindemitgliedern die Rede sein; Weiber, Sklaven, Fremde waren von selbst davon ausgeschlossen. Bei den Griechen und Römern galten die Ungleichheiten der Menschen viel mehr als irgendwelche Gleichheit. Dass Griechen und Barbaren, Freie und Sklaven, Staatsbürger und Schutzverwandte, römische Bürger und römische Untertanen ... einen Anspruch auf gleiche politische Geltung haben sollten, wäre den Alten notwendig verrückt vorgekommen. Unter dem römischen Kaisertum lösten sich alle diese Unterschiede allmählich auf, mit Ausnahme desjenigen von Freien und Sklaven; es entstand damit, für die Freien wenigstens, jene Gleichheit der Privatleute, auf deren Grundlage das römische Recht sich entwickelte, die vollkommenste Ausbildung des auf Privateigentum beruhenden Rechts, die wir kennen. Aber solange der Gegensatz von Freien und Sklaven bestand, konnte von rechtlichen Folgerungen aus der allgemein menschlichen Gleichheit keine Rede sein; ....
Das Christentum kannte nur eine Gleichheit aller Menschen, die der gleichen Erbsündhaftigkeit, die ganz seinem Charakter als Religion der Sklaven und Unterdrückten entsprach. ... Sehr bald machte die Festsetzung des Gegensatzes von Priester und Laie auch diesem Ansatz von christlicher Gleichheit ein Ende. -
Die Überflutung Westeuropas durch die Germanen beseitigte für Jahrhunderte alle Gleichheitsvorstellungen durch den allmählichen Aufbau einer sozialen und politischen Rangordnung von so verwickelter Art, wie sie bisher noch nicht bestanden hatte. ...
Das feudale Mittelalter entwickelte außerdem in seinem Schoß die Klasse, die berufen war, in ihrer weiteren Ausbildung die Trägerin der modernen Gleichheitsforderung zu werden: das Bürgertum. Anfangs selbst feudaler Stand, hatte das Bürgertum die vorwiegend handwerksmäßige Industrie und den Produktentausch innerhalb der feudalen Gesellschaft auf eine verhältnismäßig hohe Stufe entwickelt, als mit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die großen Entdeckungen zur See ihm eine neue, umfassendere Laufbahn eröffneten. Der außereuropäische Handel ... überflügelte bald an Bedeutung sowohl den Austausch der einzelnen europäischen Ländern unter sich, wie den inneren Verkehr eines jeden einzelnen Landes. ...
Diesem gewaltigen Umschwung der ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft folgte indes keineswegs sofort eine entsprechende Änderung ihrer politischen Gliederung. Die staatliche Ordnung blieb feudal, während die Gesellschaft mehr und mehr bürgerlich wurde. Der Handel auf großer Stufenleiter, also namentlich der internationale, und noch mehr der Welthandel, fordert freie, in ihren Bewegungen ungehemmte Warenbesitzer, die als solche gleichberechtigt sind...
Der Übergang vom Handwerk zur Manufaktur hat zur Voraussetzung die Existenz einer Anzahl freier Arbeiter - frei einerseits von Zunftfesseln und andererseits von den Mitteln, um ihre Arbeitskraft selbst zu verwerten -, die mit dem Fabrikanten wegen Vermietung ihrer Arbeitskraft kontrahieren können, also ihm als Vertragspartner gleichberechtigt gegenüberstehen.
Und endlich fand die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller menschlichen Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, ihren unbewussten, aber stärksten Ausdruck im Wertgesetz der modernen bürgerlichen Ökonomie, wonach der Wert einer Ware gemessen wird durch die in ihr enthaltene gesellschaftlich notwendige Arbeit. -
Wo aber die ökonomische Verhältnisse Freiheit und Gleichberechtigung forderten, setzte ihnen die politische Ordnung Zunftfesseln und Sonderprivilegien auf jedem Schritt entgegen. ...
Die Forderung der Befreiung von feudalen Fesseln und der Herstellung der Rechtsgleichheit durch Beseitigung der feudalen Ungleichheiten ... musste bald größere Dimensionen annehmen. ...
Bekanntlich wird indes die Bourgeoisie, von dem Augenblick an, wo sie sich aus dem feudalen Bürgertum entpuppt..., stets und unvermeidlich begleitet von ihrem Schatten, dem Proletariat. Und ebenso werden die bürgerlichen Gleichheitsforderungen begleitet von proletarischen Gleichheitsforderungen. Von dem Augenblick an, wo die bürgerliche Forderung der Abschaffung der Klassenvorrechte gestellt wird, tritt neben sie die proletarische Forderung der Abschaffung der Klassen selbst - zuerst in religiöser Form ...., später gestützt auf die bürgerlichen Gleichheitstheorien selbst.
Die Proletarier nehmen die Bourgeoisie beim Wort: die Gleichheit soll nicht bloß scheinbar, nicht bloß auf dem Gebiet des Staats, sie soll auch wirklich, auch auf dem gesellschaftlichen, ökonomischen Gebiet durchgeführt werden. ...
Die Gleichheitsforderung im Munde des Proletariats ... ist entstanden aus der Reaktion gegen die bürgerliche Gleichheitsforderung, zieht mehr oder weniger richtige, weitergehende Forderungen aus dieser, dient als Agitationsmittel, um die Arbeiter mit den eigenen Behauptungen der Kapitalisten gegen die Kapitalisten aufzuregen, und ... steht und fällt ... mit der bürgerlichen Gleichheit selbst. ...
Somit ist die Vorstellung der Gleichheit, sowohl in ihrer bürgerlichen wie in ihrer proletarischen Form, selbst ein geschichtliches Produkt ... Sie ist also alles, nur keine ewige Wahrheit.“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 95-99.

„Die Vorstellung der sozialistischen Gesellschaft als des Reiches der Gleichheit ist eine einseitige französische Vorstellung, anlehnend an das alte ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’, eine Vorstellung, die als Entwicklungsstufe ihrer Zeit und ihres Ortes berechtigt war, die aber, wie alle die Einseitigkeiten der früheren sozialistischen Schulen, jetzt überwunden sein sollten, da sie nur Verwirrung in den Köpfen anrichten und präzisere Darstellungsweisen der Sache gefunden sind.“ MEW 34, 129.

2. Kritik der Gleichheitsforderung
2.1. Theoretische Kritik der Gleichheitsforderung
„Der Satz der Gleichheit ist aber der, dass keine Vorrechte bestehen sollen, ist also wesentlich negativ, erklärt die ganze bisherige Geschichte für schlecht. Wegen seines Mangels an positivem Inhalt und wegen seiner kurzhändigen Verwerfung alles Früheren eignet er sich ... für ... systemfabrizierende Flachköpfe.
Aber Gleichheit = Gerechtigkeit als höchstes Prinzip und letzte Wahrheit hinstellen zu wollen, ist absurd. Gleichheit besteht bloß im Gegensatz zu Ungleichheit, Gerechtigkeit zu Unrecht, diese Begriffe sind also noch mit dem Gegensatz zur alten bisherigen Geschichte behaftet, also mit der alten Gesellschaft selbst.“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 580.

„Die Gleichmachung der Klassen, wörtlich interpretiert, läuft auf die Harmonie von Kapital und Arbeit hinaus, welche die Bourgeoissozialisten so aufdringlich predigen. Nicht die Gleichmachung der Klassen - ein logischer Widersinn, unmöglich zu realisieren -, sondern vielmehr die Abschaffung der Klassen, dieses wahre Geheimnis der proletarischen Bewegung, bildet das große Ziel der Internationalen Arbeiterassoziation.“ K. Marx im Namen der IAA an die Bakuninisten, MEW 16, 349.

„Herr Proudhon ... bildet sich ein, die Arbeitsteilung, der Kredit, die Maschinen etc., alles sei erfunden worden, um seiner fixen Idee, der Idee der Gleichheit, zu dienen. Seine Erklärung ist von köstlicher Naivität. Man hat diese Dinge eigens für die Gleichheit erfunden, doch leider haben sie sich gegen die Gleichheit gekehrt. Das ist seine ganze Überlegung. Das heißt, er geht von einer willkürlichen Annahme aus, und da die wirkliche Entwicklung und seine Fiktion einander auf Schritt und Tritt widersprechen, schließt er daraus, dass hier ein Widerspruch bestehe. Er verheimlicht dabei, dass es nur ein Widerspruch zwischen seinen fixen Ideen und der wirklichen Bewegung ist.“ K. Marx an Annenkow, 28.12.1846. MEW 27, 456.

2.2. Praktische Kritik der Gleichheitsforderung
„Wir wissen jetzt, dass dieses Reich der Vernunft weiter nichts war, als das idealisierte Reich der Bourgeoisie; dass die ewige Gerechtigkeit ihre Verwirklichung fand in der Bourgeoisjustiz; dass die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz, dass als eins der wesentlichsten Menschenrechte proklamiert wurde - das bürgerliche Eigentum; und dass der Vernunftstaat ... nur ins Leben treten konnte als bürgerliche, demokratische Republik.“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 17

2.2.1. Der Warenaustausch der Warenbesitzer ist die reale Basis aller Gleichheitsvorstellungen.
2.2.1.1. Gleichheit der menschlichen Arbeiten ist Basis der Gleichwertigkeit der Waren:
„Und endlich fand die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller menschlichen Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, ihren unbewussten, aber stärksten Ausdruck im Wertgesetz der modernen bürgerlichen Ökonomie, wonach der Wert einer Ware gemessen wird durch die in ihr enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit.“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 97.

„Dass ... in der Form der Warenwerte alle Arbeiten als gleiche menschliche Arbeit und daher als gleichgeltend ausgedrückt sind, konnte Aristoteles nicht aus der Wertform herauslesen, weil die griechische Gesellschaft auf der Sklavenarbeit beruhte, daher die Ungleichheit der Menschen und ihrer Arbeitskräfte zur Naturbasis hatte.
Das Geheimnis des Wertausdrucks („x Ware A = y Ware B“), die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, kann nur entziffert werden, sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt. Das ist aber erst möglich in einer Gesellschaft, worin die Warenform die allgemeine Form des Arbeitsprodukts, also auch das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist.“ K. Marx, Kapital I. MEW 23, 74.

2.2.1.2. Die Gleichberechtigung der verschiedenen Warenbesitzer verbietet den Raub und fordert den Warentausch:
„Jedes der Subjekte ist ein Austauschender; d.h. jedes hat dieselbe gesellschaftliche Beziehung zu dem anderen, die das andere zu ihm hat. Als Subjekte des Austauschs ist ihre Beziehung daher die der Gleichheit.“ K. Marx, Grundrisse, 153.

„...der Inhalt des Austausches..., weit entfernt die soziale Gleichheit der Individuen zu gefährden, macht vielmehr ihre natürliche Verschiedenheit zum Grund ihrer sozialen Gleichheit.
Wenn das Individuum A dasselbe Bedürfnis hätte wie das Individuum B und in demselben Gegenstand seine Arbeit realisiert hätte, wie das Individuum B, so wäre gar keine Beziehung zwischen ihnen vorhanden...
Die Verschiedenheit ihres Bedürfnisses und ihrer Produktion gibt nur den Anlass zum Austausch und zu ihrer sozialen Gleichsetzung in ihm; diese natürliche Verschiedenheit ist daher die Voraussetzung ihrer sozialen Gleichheit im Akt des Austauschs und dieser Beziehung überhaupt.“ K. Marx, Grundrisse, 154.

„Obgleich das Individuum A Bedürfnis fühlt nach der Ware des Individuums B, bemächtigt es sich derselben nicht mit Gewalt, ... sondern sie erkennen sich wechselseitig an als Eigentümer...
Damit ist also die vollständige Freiheit des Individuums gesetzt: Freiwillige Transaktion; Gewalt von keiner Seite; ... Wenn also ... der Austausch nach allen Seiten hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der Inhalt, der Stoff, ... der zum Austausch treibt, die Freiheit. Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke desselben; als entwickelt in juristischen, politischen, sozialen Beziehungen sind sie nur diese Basis in einer anderen Potenz.“ K. Marx, Grundrisse, 155f.

2.2.1.3. Die Gleichheit von Arbeiter und Kapitalist als Warenbesitzer ergibt ihre Ungleichheit als Ausbeuter und Ausgebeuteter“:
“Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer ... der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie schließen den Vertrag als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Arbeitsvertrag ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen gleichen Wert (Arbeitskraft) gegen gleichen Wert (Lohn).“ K. Marx, MEW 23, 189f.

2.2.2. Darüber hinaus noch „mehr“ Gleichheit zu fordern, ist unerfüllbar und dumm.
2.2.2.1. Gleichheit der Löhne?
Gleich sind die Lohnarbeiter untereinander nur als bloße Besitzer von Arbeitskraft. Ihre jeweilige Arbeitskraft und ihre Ausbildungskosten sind jedoch verschieden, also müssen ihre Löhne auch verschieden sein.
„...Ich muss diese Gelegenheit zu der Feststellung benutzen, dass, genauso wie die Produktionskosten für Arbeitskräfte verschiedener Qualität nun einmal verschieden sind, auch die Werte der in verschiedenen Geschäftszweigen beschäftigten Arbeitskräfte verschieden sein müssen. Der Ruf nach Gleichheit der Löhne beruht daher auf einem Irrtum, ist unerfüllbarer, törichter Wunsch.“ MEW 16, 131.

2.2.2.2. Gleichheit aller Menschen?
Moderne Lohnarbeiter haben andere Lebens- und Denkweisen als Menschen in rückständigen Produktionsweisen.
„Es wird keinem sozialistischen Proletarier oder Theoretiker einfallen, die abstrakte Gleichheit zwischen sich und einem Buschmann oder Feuerländer, ja nur einem Bauern oder halbfeudalen Landtagelöhner anerkennen zu wollen.“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 581.

2.2.2.3. Gleichheit der Löhne und Lebensbedingungen ist auch im Sozialismus nicht machbar:
„Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.
Demgemäss erhält der einzelne Produzent - nach den Abzügen - exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z. B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er so und so viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.
Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger ist. Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehen kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausgetauscht.
Das gleiche Recht ist hier daher immer noch - dem Prinzip nach - das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen, während der Austausch von Äquivalenten (gleichen Werten) beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den einzelnen Fall existiert.
Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportional; die Gleichheit besteht darin, dass an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird.
Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muss der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein.
Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es er erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach , wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehen; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab messbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite fasst, z. B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Missstände zu vermeiden, müsste das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.
Aber diese Missstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.“ K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 20f.

2.2.2 Im Kommunismus wird die Forderung nach „Verwirklichung der Gleichheit“ vollends Unsinn. Der Kommunismus anerkennt gerade die unterschiedlichen Fähigkeiten und unterschiedlichen Bedürfnisse der Individuen.
„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 21.
Wo es dem Verständnis dient, habe ich die Rechtschreibung, veraltete Fremdwörter, Maßeinheiten und Zahlenangaben modernisiert. Diese und alle erklärenden Textteile, die nicht wörtlich von Marx stammen, stehen in kursiver Schrift.
Wal Buchenberg, 10.1.2002.