Opportunismus & Kompromissbereitschaft
1.
Kompromisse sind von den Umständen erzwungene Umwege zu dem Ziel
Emanzipation der Lohnarbeit. Solche Umwege geht man in Zeiten, in denen
man nicht die Kraft hat, Hindernisse wegzuräumen, die den direkten Weg zum
Ziel versperren. Wer mit dem Kopf durch die Wand will, tut nichts und
erreicht nichts.
Dreiunddreißig ‚kompromisslose’ französische Revolutionäre
schrieben nach der Niederlage der Pariser Kommune: ’Wir sind
Kommunisten, weil wir bei unserem Ziel ankommen wollen, ohne uns an
Zwischenstationen aufzuhalten, an Kompromissen, die nur den Sieg vertagen
und die Sklaverei verlängern.’ F. Engels bemerkte dazu: „Die
deutschen Kommunisten sind Kommunisten, weil sie durch alle
Zwischenstationen und Kompromisse, die nicht von ihnen, sondern von der
geschichtlichen Entwicklung geschaffen werden, das Endziel klar
hindurchsehen: die Abschaffung der Klassen, die Errichtung einer
Gesellschaft, worin kein Privateigentum an der Erde und an den
Produktionsmitteln mehr existiert. Die Dreiunddreißig sind Kommunisten,
weil sie sich einbilden, sobald sie nur den guten Willen haben, die
Zwischenstationen und Kompromisse zu überspringen, sei die Sache
abgemacht, und wenn es, wie ja feststeht, es dieser Tage ‚losgeht’
und sie ans Ruder kommen, so sei übermorgen ‚der Kommunismus’ eingeführt.
Wenn das nicht sofort möglich ist, sind sie also auch keine
Kommunisten.“ F. Engels, Flüchtlingsliteratur, MEW 18, 533.
Marx
spottete über die ‚Kompromisslosen’: „Wenn sich die Arbeiter in ihrem
politischen Kampf gegen den bürgerlichen Staat vereinigen, nur um
Konzessionen zu erreichen, dann schließen sie Kompromisse, und das steht
im Widerspruch zu den ewigen Prinzipien! ... Mit einem Wort, die
Arbeiter sollen die Hände verschränken und ihre Zeit nicht für politische
und ökonomische Bewegungen verschwenden. All diese Bewegungen können
nichts als unmittelbare Resultate bringen. ... In ihrem alltäglichen
praktischen Leben müssen die Arbeiter die gehorsamsten Diener des Staates
sein, in ihrem Inneren aber müssen sie auf das energischste gegen seine
Existenz protestieren und ihm ihre tiefe theoretische Verachtung durch
Kaufen und Lesen von Broschüren über die Abschaffung des Staates
bekunden; sie müssen sich aber hüten, der kapitalistischen Ordnung einen
anderen Widerstand entgegenzusetzen als Deklamationen über die
Gesellschaft der Zukunft, in der die Existenz dieser verhassten Ordnung
aufhören wird!“ K. Marx, Der politische Indifferentismus, MEW 18,
299f.
Die Kommunisten kämpfen „für die Erreichung der
unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber
sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der
Bewegung.“ K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 492f.
2.
Kompromisse, die irgendwohin führen, nur nicht näher zur Emanzipation der
Lohnarbeit, sind opportunistisch. „Dies Vergessen der großen
Hauptgesichtspunkte über den augenblicklichen Interessen des Tages, dies
Ringen und Trachten nach dem Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die
späteren Folgen, dies Preisgeben der Zukunft der Bewegung, um der
Gegenwart der Bewegung willen mag ‚ehrlich’ gemeint sein, aber
Opportunismus ist und bleibt es, und der ‚ehrliche’ Opportunismus ist
vielleicht der gefährlichste von allen.“ F. Engels, SPD-Programm 1891, MEW
22, 235.
„Das Programm
soll nicht aufgegeben, sondern nur aufgeschoben werden - bis
auf unbestimmte Zeit. Man nimmt es an, aber eigentlich nicht für sich
selbst und für seine Lebzeiten, sondern für die Zeit nach seinem
Tod, als Erbstück für Kinder und Kindeskinder. Inzwischen wendet man
seine ‚ganze Kraft und Energie’ auf allerhand Kleinkram und Herumflickerei
an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, damit es doch aussieht, als
geschehe etwas und gleichzeitig die Bourgeoisie nicht erschreckt werde.“
Marx/Engels, An die SPD-Führung, 17.9.1879. MEW 34, 404.
„Selbst wenn diese
Kleinbürger sich zu unseren Anschauungen bekennen, werden sie sagen:
natürlich ist der Kommunismus die endgültige Lösung, aber es dauert noch
lange, vielleicht 100 Jahre, bis er verwirklicht werden kann - mit anderen
Worten: wir beabsichtigen nicht, für seine Verwirklichung zu arbeiten,
weder zu unseren noch zu unserer Kinder Lebzeiten.“ F. Engels an L.
Lafargue, 2.10.1886. MEW 36, 540.
„Es sind die Repräsentanten des
Kleinbürgertums, die sich anmelden, voll Angst, das Proletariat, durch
seine revolutionäre Lage gedrängt, möge ‚zu weit gehen’. Statt
entschiedener politischer Opposition - allgemeine Vermittlung; statt
des Kampfes gegen Regierung und Bourgeoisie - der Versuch, sie zu gewinnen
und zu überreden; statt trotzigen Widerstands gegen Misshandlungen von
oben - demütige Unterwerfung und das Zugeständnis, man habe die Strafe
verdient. Alle historisch notwendigen Konflikte werden umgedeutet in
Missverständnisse und alle Diskussionen beendigt mit der Beteuerung: in
der Hauptsache sind wir ja alle einig. Die Leute, die 1848 als
bürgerliche Demokraten auftraten, können sich jetzt ebenso gut
Sozialdemokraten nennen. Wie jenen die demokratische Republik, so liegt
diesen der Sturz der kapitalistischen Ordnung in unerreichbarer Ferne, hat
also absolut keine Bedeutung für die politische Praxis der Gegenwart; man
kann vermitteln, kompromisseln, menschenrechteln nach
Herzenslust. Ebenso geht es mit dem Klassenkampf zwischen Proletariat
und Bourgeoisie. Auf dem Papier erkennt man ihn an, weil man ihn doch
nicht mehr wegleugnen kann, in der Praxis aber wird er vertuscht,
verwaschen, abgeschwächt. Die sozialdemokratische Partei soll keine
Arbeiterpartei sein, sie soll nicht den Hass der Bourgeoisie oder
überhaupt jemandes auf sich laden; sie soll vor allem unter der
Bourgeoisie energische Propaganda machen; statt auf weitgehende, die
Bourgeois abschreckende und doch in unserer Generation unerreichbare Ziele
Gewicht zu legen, soll sie lieber ihre ganze Kraft und Energie auf
diejenigen kleinbürgerlichen Flickreformen verwenden, die der alten
Gesellschaftsordnung neue Stützen verleihen und dadurch die endliche
Katastrophe vielleicht in einen allmählichen, stückweisen und möglichst
friedfertigen Auflösungsprozess verwandeln könnten. ... Wo der
Klassenkampf als unliebsame ‚rohe’ Erscheinung auf die Seite geschoben
wird, da bleibt als Basis des Sozialismus nichts als ‚wahre Menschenliebe’
und leere Redensarten von ‚Gerechtigkeit’. ... Jene Herren ... stecken
über und über voll bürgerlicher und kleinbürgerlicher Vorstellungen. ...
Wenn die Herren sich als sozialdemokratische Kleinbürgerpartei
konstituieren, so sind sie in ihrem vollen Recht; man könnte dann mit
ihnen verhandeln, je nach Umständen Kartell schließen etc. Aber in einer
Arbeiterpartei sind sie ein verfälschendes Element.“ Marx/Engels,
An die SPD-Führung, 17.9.1879. MEW 34, 405-407.
„Sind diese
Radikalen dumm! Aber es ist die verhängnisvolle Dummheit, die sich jeder
bürgerlichen Partei bemächtigt, sobald sie sich dem
Regierungsantritt nähert und infolgedessen ihren Charakter einer
Oppositionspartei verliert. Ungeduldig wartet man darauf, an die Regierung
zu kommen, obwohl man weiß, dass der Augenblick noch nicht gekommen ist;
... Man ist gezwungen, ... Opportunist zu werden. Jede Partei,
die an die Regierung will, bevor ihr die Umstände gestatten, ihr eigenes
Programm zu verwirklichen, ist verloren.“ F. Engels an P. Lafargue,
7.5.1886. MEW 36, 481.
3. „Erkenne dich selbst , erkenne den
Feind und du gewinnst hundert Schlachten“! (Sunzi, chinesischer
Kriegstheoretiker). Wer sich, den Feind und die Situation berücksichtigt,
für den gibt es keinen Opportunismus, der verbündet sich auch mit einem
Gegner. „In der Politik darf man sich, um ein bestimmtes Ziel zu
erreichen, mit dem Teufel selbst verbünden – nur muss man die Gewissheit
haben, dass man den Teufel betrügt, und nicht umgekehrt.“ K. Marx, New
York Daily Tribune, 1.12.1852, MEW 8, 392.
„Ihr müsst
wissen, ob ‚Paris eine Messe wert ist’, wie Heinrich IV. sagte, als er
katholisch wurde und damit Frankreich einen 30-jährigen Krieg ersparte; ob
die Vorteile derart sind, dass man eine Inkonsequenz begehen
kann...“ F. Engels an Bebel, 24.11.1879.
„Mit geringem
Menschenverstand hätte die Pariser Kommune ... einen der
ganzen Volksmasse nützlichen Kompromiss mit Versailles (wo die
bürgerliche Gegenregierung saß) – das allein damals Erreichbare –
erzielen können. Die Besetzung der Bank von Frankreich allein hätte der
Versailler Großtuerei ein Ende mit Schrecken gemacht, etc. etc.“ K. Marx
an Nieuwenhuis, 22.2.1881. MEW 35,160.
3.1. Diese
Anpassungsfähigkeit an Umstände und beteiligte Personen gilt ebenso für
das taktische Auftreten. Da kann man sogar von kapitalistischen
Geschäftemachern lernen, deren Erfolgsrezept heißt: Hart in der Sache,
weich im Ton! K. Marx über die von ihm verfasste
Gründungserklärung der Internationalen Arbeiterassoziation: „Es war
sehr schwierig, die Sache so zu halten, dass unsere Ansicht in einer Form
erschien, die sie dem jetzigen Stundpunkt der Arbeiterbewegung akzeptabel
machte. ... Es bedarf Zeit, bis die wiedererwachende Bewegung die alte
Kühnheit der Sprache erlaubt. Nötig war ‚Hart in der Sache, weich im
Ton’.“ K. Marx an Engels, 4.11.1864. MEW 31, 16.
Wo es dem
Verständnis dient, habe ich veraltete Fremdwörter, alte Maßeinheiten und
teilweise auch Zahlenangaben
modernisiert. Alle diese und andere Textteile, die nicht wörtlich
von Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Wal Buchenberg,
8.6..2002 |