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Kurz "Schwarzbuch Kapitalismus"
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GegenStandpunkt 3-2000:
R. Kurz: "Schwarzbuch Kapitalismus - ein Abgesang auf die Marktwirtschaft"
Die Intellektuellenfibel für den Abgesang auf Kapitalismuskritik
Ein Gespenst geht um im Zeitgeist. In einer Öffentlichkeit, der das
herrschende Gesellschaftssystem über alles geht und die abweichende
Meinungen einfach totzuschweigen pflegt, macht ein Linker mit Kapitalismuskritik
Furore. Sein Buch ist ein Hit in einschlägigen Bestseller-Listen.
Es wird in Zeitungen rezensiert - zum Teil sogar wohlwollend -, sein Autor
avanciert zum Sachverständigen für politische Urteilsbildung,
wird zu Talk-Shows gebeten und darf sich im Magazin von Deutschlands größter
Tageszeitung regelmäßig mit seinen Ansichten verbreiten. Da
fragen wir uns schon, wie der Mann das hingekriegt hat. Was kann der und
haben wir versäumt, dass die Kritik des Kapitalismus hierzulande wieder
populär und sogar salonfähig machtwird? Also haben wir alles
vergessen, was uns an den politischen Auffassungen des Autors schon seit
längerem nervt , und ganz vorurteilslos sein dickes Buch durchgenommen,
Kapitel für Kapitel. Dabei haben wir Folgendes gelernt:
"Prolog": Wie zeitgemäßes Kritisieren geht
Um die Erwartungen, die der Leser an den Titel seines Oeuvre knüpft,
aufs richtige Gleis zu bringen, stellt der Autor vorweg klar, worum es
ihm geht. Er hat eine Entdeckung gemacht, die zuallererst den kapitalistischen
Menschen betrifft, der in uns allen steckt, und die unsdem kein besonders
gutes Zeugnis ausstellt. Von Geschichte, unserer eigenen zumal, haben wir
keinen blassen Schimmer, und zwar deswegen nicht, weil uns die Neigung,
über die Welt in rosa eingefärbten Bildern zu denken, als Naturell
anhaftet, uns der Hang zur Apologie im Blut liegt: "Das historische Gedächtnis
der Menschen ist kurz. Sogar die eigene Biografie verblasst in der Erinnerung
(...) in der Regel (sind wir) Verdrängungskünstler, die sich
die eigene Geschichte zurechtfärben und für das Selbstwertgefühl
passend legitimieren. Jeder Mensch affirmiert sein noch so fadenscheiniges
Ego, um möglichst bequem und unangefochten in seiner Haut leben zu
können" (9). In jedem von uns steckt also, menschlich-allzumenschlich,
ein kleiner professioneller Schönfärber, und damit steht auch
schon in etwa die zweite Entdeckung, mit der der Autor gleich zu Beginn
aufwartet. "Ähnliches" nämlich "gilt in verstärktem Maße
für das kollektive Gedächtnis der Menschheit". So erklärt
es sich für ihn, dass der moderne Zeitgeist zum Thema Kapitalismus
eine einzige affirmative Gesinnungswirtschaft betreibt. R. Kurz jedenfalls
macht eine "bis zur Vollendung gediehene Geschichtsblindheit" (11) dafür
verantwortlich, dass die zirkulierenden Apotheosen des kapitalistischen
Systems, die Glorifizierungen von Marktwirtschaft und Demokratie zum nun
endlich alternativlosen Endpunkt aller gesellschaftlichen Entwicklung überall
so unangefochten durchgehen. Nicht bei ihm allerdings. Ihm entpuppt sich
dort, wo alle anderen sich zu den Schönheiten und der Vernunft einer
endlich "freien Welt" beglückwünschen, "das planetarische System
des Kapitalismus als eine Gesellschaft, 'die dabei ist, buchstäblich
verrückt zu werden' (O. Negt)" (12) - und so dreht er den Spieß
einfach um: Wo alle vor der Geschichte des Kapitalismus notorisch die Augen
verschließen, weil sie ihn nur so richtig schönfärben können,
da steigt er in die kapitalistische Geschichte ein, um den Kapitalismus
schwarz zu malen. Die schlechte Welt, die er vor sich sieht, will er so
schlecht aussehen lassen, wie es ihr auch gebührt, und dabei hat er
durchaus Höheres im Sinn. Er will ihr auf diesem Wege zu ihrem Besseren
verhelfen. Er geht davon aus, dass ihr übler Zustand im Grunde genommen
von Niemandem gewollt sein kann, und ersatzweise für alle, die vomn
ihm nichts wissen und nichts wissen wollen, die er aber auf seiner Seite
weiß, nimmt er sich vor, ihn anzuprangern. Er will den Kapitalismus
als Schreckensbild ausmalen, um auf diesem Wege ein 'Erwachet!' in die
Welt zu setzen, möchte für die "Selbsterkenntnis des kapitalistischen
Menschen" sorgen und so der "Selbstheilung der Gesellschaft" zuarbeiten:
Ein radikalkritischer "Abgesang auf die Marktwirtschaft" soll die kapitalistische
Menschheit so gründlich vor sich selbst erschrecken, dass ihr schlecht
wird, sie in ihrem Treiben innehält und sich augenblicklich eines
Besseren besinnt. Das ist die Sorte Aufklärung und Bewusstmachung,
die der Autor als so ziemlich letzter Vertreter der Ratio für diesenseinen
Adressaten: - "dieser komplette, seiner kritischen Vernunft beraubte und
entmündigte Idiot" (11 f.) - vorgesehen hat: Einem riesigen Pandämonium,
einem "absurd und gemeingefährlich gewordenen System der totalen Konkurrenz
von atomisierten Individuen" will er in Gestalt seines schwarzen Buches
den "Spiegel seiner eigenen Geschichte" (12) vorhalten. Und weil aus ihm
der Parteigänger des Guten spricht, das auch in allen Anderen steckt,
macht er für den Fall, dass, wie so manch anderer moralischer Rufer
in der Wüste, auch er ungehört verhallen sollte, sein Publikum
auch noch damit vertraut, dass es ohnehin keine andere Wahl hat, als seiner
Botschaft zu folgen: "Die kapitalistische Industrialisierung, die im späten
18. Jahrhundert angestoßen wurde, tritt in das Stadium der Ausweglosigkeit
ein. Es kann nur noch ein Abenteuer geben: die Überwindung der Marktwirtschaft"
(13).
So kündigt der Autor für die 800 Seiten seines Lesestoffs
die diversen Erscheinungsweisen eines kapitalistischen Sodom und Gomorrha
an, bei dem auch noch ein Jüngstes Gericht als Abenteuer winkt - ein
kleiner Erlöser der Menschheit gibt sich da die Ehre. Aber vielleicht
ist das bloß sein literarischer Dreh. Ein notwendiges Zugeständnis
ans zeitgenössische Unterhaltungsbedürfnis, nur der Trick eines
nach umfassender Aufklärung drängenden Schriftstellers, der das
Interesse eines affirmativ-idiotisierten Publikums erst wecken will, um
ihm dann ganz anders, mit knochentrockenen und obendrein tauglichen Erklärungen
kommen zu können.
"Modernisierung und Massenarmut": Wie Sinnvergessenheit kapitalistisches
Elend schafft
Seitdem es ihn gibt, wird der Kapitalismus von kritischen Räsonnements
begleitet, die sich mit der Verteilung des Reichtums befassen, den diese
Produktionsweise zustande bringt. Und seitdem einer sich die Mühe
gemacht hat, die unübersehbar wenig schönen materiellen Ergebnisse
dieser so ungemein effektiven Produktionsweise zu erklären - statt
sie moralisch anzuklagen -, fasst sich die Kritik der politischen Ökonomie
des Kapitalismus in der Erkenntnis zusammen, dass in diesem System der
Reichtum, existierend als Privateigentum in wenigen Händen und gemessen
in Geld, auf der produktiv gemachten Eigentumslosigkeit, der methodischen
Ausbeutung derer beruht, die ihn produzieren. Marx steht dafür. Auch
unser Kritiker stellt sich in die Reihe dieser Kritik und rückt sein
definitives Urteil über die notorische Armut, die zum kapitalistischen
Reichtum gehört, an den Anfang seiner Erörterungen: "Denn der
Kapitalismus ist ein brutales Gewinner-Verlierer-Spiel, dessen totalitärer
Charakter die pure soziale und selbst die physische Existenz als Einsatz
nicht ausspart; und er hat von Anfang an mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht."
(14) Wo sich alle in der Zufriedenheit ergehen, in Gestalt des Kapitalismus
mit der so ziemlich besten aller möglichen Welten bedient zu sein,
hält der Autor dagegen: Kapitalismus ist für ihn ein Unterfangen,
bei dem die Menschheit mehrheitlich ihre eigene Existenz vergeigt, und
der Kritiker besteht darauf, dass in seiner Metapher vom Spiel, das ganz
üble Folgen hat, wenigstens letztere ganz und gar nicht metaphorisch
aufzufassen sind: "Dass der Kapitalismus einige Wenige reich, die Masse
aber bettelarm macht, das ist eine historische Grunderfahrung" (15). Damit
wäre der Gegenstand der fälligen Untersuchung eigentlich benannt,
die Erklärung - sei es wie bei Marx, sei es ganz anders, womöglich
besser - könnte losgehen - wenn es nicht mit der zitierten "historischen
Grunderfahrung" die eigentümliche Bewandtnis hätte, dass es sich
nach Kurz' Auffassung um eine Erfahrung in dem Sinn: um die jedem wachen
Verstand sich aufdrängende Kenntnisnahme vom faktischen Gang der gesellschaftlichen
Dinge, dann doch gar nicht handelt. Zwar nötigt "der Kapitalismus"
seinen Massen die ungeschminkte Wahrheit über sich auf, dies aber
doch nur auf so tiefem "historischen Grund", dass für den reflektierenden
Kritiker der Verhältnisse doch noch das Entscheidende zu tun bleibt:
Er muss in Erinnerung rufen, "bewusst machen", was "im Grunde" alle schon
wissen, wie schlecht es ihnen nämlich geht, weil sie es dann doch
immer nicht gemerkt haben wollen. Diese kritische Leistung - unliebsame
Wahrheiten "bewusst zu machen" - hat unter psychologisch gebildeten Zeitgenossen,
und wer gehörte nicht dazu?, einen enorm guten Ruf; ganz zu Recht.
Denn mit dieser Tätigkeit erspart man sich das mühselige Geschäft,
irgendwas zu erklären, was sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen
nicht von selbst versteht, sachliche Notwendigkeiten herauszufinden, auf
die man nicht einfach wie auf Fakten deuten kann, eben weil sie deren Grund
betreffen: Wo es bloß um "Bewusstmachung" geht, liegt alles, was
es über den Kapitalismus mitzuteilen gibt, als ungehobener Erfahrungsschatz
bei jedermann längst vor. Deswegen erübrigt sich bei der Hebung
dieses Schatzes auch die andere Mühseligkeit, die so fatal weit verbreiteten,
zu Selbstverständlichkeiten geronnenen falschen Deutungen der kapitalistischen
Lebensverhältnisse zur Kenntnis zu nehmen, zu entkräften, ihren
Fehler auf den Begriff zu bringen und ihn darüber sich und anderen
gründlich abzugewöhnen. "Falsch" am affirmativen Bewusstsein
der vielen Mitmacher ist für Kurz ja bloß, dass es seine ureigene
Grunderfahrung nicht richtig festhält, nicht dauernd aktualisiert
. Dementsprechend tiefsinnig gestaltet sich seine Korrektur - und schlagartig
wird klar, weshalb Kurz' Opus magnum ungefähr so lange dauert wie
eine durchschnittliche Psychotherapie: Getreu seiner Devise, wonach die
Menschheit über den Kapitalismus niemals eine so gute Meinung hätte,
würde sie nicht beständig absichtsvoll vergessen, wie schlecht
der schon immer war, nimmt er sich vor, diesen Verdrängungskünstlern
so penetrant wie möglich vor Augen zu stellen, woran sie sich partout
nicht erinnern wollen. Er breitet ihnen die authentische Grunderfahrung
namens Kapitalismus aus, die sich für ihn in "Massenarmut" zusammenfasst,
und - dies sein Mittel, als Kritiker zu überzeugen - lässt dazu
die Fakten sprechen. Seitenweise zitiert er aus einem riesigen Zettelkasten
historische Belege, wie fein eingerichtet die vorkapitalistische Welt war.
Ein König Wenzel II aus dem 14. Jh. kommt vor, weil er ein großes
Herz für Bergleute leute hat. Vergleichsweise leckere Speisepläne
aus dem Mittelalter decken schonungslos auf, wie wenig der moderne Abendländer
von sich und seiner Geschichte vor dem kapitalistischen Sündenfall
weiß. Sogar von erstaunlich kaufkräftigen Reallöhnen aus
derselben Zeit erfährt der Leser, später dann von Goethe, wie
dessen trübe Vorahnungen, die nahende Zukunft betreffend, selbige
auch schon auf den Begriff bringen, und dann von Weberaufstand und Weberliedern:
All das spricht für den Autor Bände, weil es dokumentiert, was
zwar damals wie heute alle erfahren, aber eben auch pausenlos verdrängen,
nämlich dass das Elend der Massen vom Kapitalismus nicht wegzudenken
ist. Freilich, das weiß ein kritischer empirischer Sozialwissenschaftler
schon auch: Ein wahres Honigschlecken war das Leben als Helot, Sklave oder
Knecht vorher auch nicht immer, "selbstverständlich gab es in der
vormodernen Gesellschaft feudale und patriarchalische Unterdrückung,
Seuchen, Kriege, Unwissenheit" (19). Aber dazu entschlossen, den Kapitalismus
gegen alle, die ihn als Fortschritt begrüßen, als genuine Quelle
des Elends der modernen Welt schlecht zu machen, muss er ihn eben auch
gegenüber dem Herrschafts- und Knechtschaftswesen der gesamten Vorzeit
schwarz malen. Dabei wäre er wirklich der Letzte, der in Sachen Fortschritt
nicht auch historische Gerechtigkeit walten ließe: "Ich will keineswegs
bestreiten, dass die kapitalistische Modernisierungsgeschichte die menschlichen
Potenzen über alles frühere Maß hinaus gesteigert hat"
(19) - auch dies offenbar eine historische Erfahrung. Nur hat das der arbeitenden
Menschheit nicht viel Segen gebracht - und der Kritiker, der die Schlechtigkeit
des Kapitalismus in Erinnerung bringen will, positive Leistungen aber nicht
abstreiten kann, wäre eigentlich ein paar erklärende Worte zu
der Frage schuldig, wie beides zusammenpasst: die "Steigerung der menschlichen
Potenzen" und des Elends der meisten der Menschen, deren "Potenzen" durch
Wissenschaft und Technik so enorm ausgeweitet worden sind. Die Erklärung
wäre, nebenbei, noch nicht einmal sehr schwer, weil die ersten Theoretiker
der Arbeiterbewegung sie schon geliefert haben: Im Kapitalismus existieren
die "menschlichen Potenzen", genauer: die produktiven Potenzen der menschlichen
Arbeit, nämlich die Technik mitsamt ihren wissenschaftlichen Grundlagen,
getrennt von den arbeitenden Leuten als Eigentum und damit als Potenz des
Kapitals, die Ausbeutung der menschlichen Arbeitstätigkeit immer ertragreicher
und rentierlicher zu gestalten. Einsichten dieser Art würden den angestrengten
Bewusstwerdungsprozess, um den das "Schwarzbuch" sich bemüht, jedoch
bloß stören. Für den ist es viel nützlicher, mit Emphase
darauf zu bestehen, dass der Kapitalismus den Massen die Früchte des
menschlichen Fortschritts, den er einerseits bewerkstelligt, andererseits
und vor allem vorenthalten hat, ihren Lebensstandard gesenkt anstatt gesteigert
hat. Um die Größe dieses Skandals so recht fühlbar zu machen,
wirft Kurz dem Kapitalismus vor, niemals "dazu imstande" gewesen zu sein,
"die von ihm hervorgebrachten Potenzen für eine Verbesserung des Lebens
aller Menschen anzuwenden" - und merkt dabei nicht einmal, wie viel er
dem verteufelten System dabei zugute hält: Offenbar ist ihm wirklich
nicht bewusst, dass der Verwendungszweck fortentwickelter technischer Potenzen
längst festliegt, wenn das Kapital sie - nie ohne Patentschutz! -
als sein Eigentum, seine Produktivkraft, sein Ausbeutungsmittel hervorbringt,
und dass die Produktionsweise nicht Unfähigkeit, sondern im Gegenteil
ihre systemeigene Leistungsfähigkeit unter Beweis stellt, wenn sie
ihre fortschrittlichen Errungenschaften nicht an eine "Verbesserung des
Lebens aller Menschen" verschwendet, sondern für die produktive Funktionalisierung
ihres geschätzten Menschenmaterials einsetzt - dessen sachgerechte
Pflege übrigens durchaus eingeschlossen... Kurz glaubt stattdessen
an ein gutes Leben für alle als Maßstab, an dem auch der Kapitalismus
sich zu bewähren hätte und schändlich scheitern würde;
er glaubt in diesem Sinne auch an eigentlich gute, potentiell geradezu
antikapitalistische Fortschrittsleistungen des Kapitalismus - und besteht
deswegen nur umso vehementer darauf, dass daraus dann doch nichts wird,
weil die schlechten Seiten des Systems, sein Versagen vor dem Ideal des
allgemeinen Menschheitsfortschritts, unendlich überwiegen: "Obwohl
Fortschritt, trotzdem Verelendung": Kurz gibt sich vom Kapitalismus enttäuscht;
freilich nicht, um die Täuschung - eigentlich wäre es doch um
allgemeine Wohlfahrt zu tun, speziell wenn Kapitalisten Forschung finanzieren
- zu entkräften, sondern um sie gerade im Gegenteil zu der weiterführenden
Frage zu verarbeiten: "Wie war dieser krasse soziale Abstieg gegenüber
allen bekannten Jahrhunderten der Antike und des Mittelalters trotz steigender
wissenschaftlicher Kenntnisse möglich?" (21) Die Antwort besteht folgerichtig
in der drastifizierenden Auflistung enorm ekelhafter historischer Umstände,
die von so viel Missstand zeugen - sollen -, dass den Freund des Menschenfortschritts
an dessen ausgebliebenen Segnungen gar nichts mehr wundert, auch ohne dass
er sich etwas davon erklärt hätte: "Absolutistischer Geldhunger,
'Exportismus', Zwangsarbeit, Staatsökonomie, Kolonialismus, Weltmarkt
und Expansion der Marktbeziehungen: In diesem Milieu einer von Grund auf
repressiven ökonomischen Dynamisierung konnte sich der ... beginnende
Privatkapitalismus tummeln." (32) Unser Kritiker begnügt sich nicht
mit dem, was er bei Marx und anderswo über die Akteure der "ursprünglichen
Akkumulation" gelesen hat. Er ist bei seinem Studium der Historie viel
gründlicher zu Werke gegangen und hat deswegen auch herausgefunden,
was die alten Fürsten in ihrem Hunger nach Geld genauso wie den Staat
in seinem nach Kolonien letztlich getrieben hat. Eine "Dynamisierung" war's,
ein Prozess, von dem wir näher erfahren dürfen, dass er von seinem
eigenen beschleunigten Prozessieren getrieben wird. Das ist nicht schlecht,
jedenfalls der Sache enorm tief auf den Grund gegangen, und wenn man zu
diesem Subjekt namens Beschleunigung noch die Prädikate "repressiv"
und "ökonomisch" dazunimmt, ist man über alles exakt im Bild,
was Marx mit seiner Rede von der Oberfläche der Konkurrenz gemeint
haben muss: Unter ihr brodelt eine Macht, von Grund auf böse,
ein "Milieu", in dem logischerweise nur gedeiht, was in ihm gedeihen kann.
Daher "tummelt" sich da ein "Privatkapitalismus", der -, wie der Herr,
so's Gescherr -, um keinen Deut besser ist: "Die Menschen sollten zu Zugochsen
der 'abstrakten Arbeit' (Marx) gemacht, nämlich einer fremdbestimmten,
jenseits der eigenen Bedürfnisse und außerhalb der eigenen Kontrolle
liegenden Tätigkeit unterworfen werden. Indem sie nur noch durch das
Joch der 'Arbeitsmärkte' an die Reproduktion ihres eigenen Lebens
herankommen konnten, mussten sie ihre gesamte produktive Tätigkeit
dem abstrakten Selbstzweck des Geldes (aus Geld mehr Geld machen) ausliefern.
'Abstrakt' gemacht wurde ihre Tätigkeit dabei als inhaltlich gleichgültige
betriebswirtschaftliche 'Verausgabung von Arbeitskraft' schlechthin, als
sinnvergessenes Produzieren um seiner selbst willen." (31) R. Kurz ist
also auch Werttheoretiker. Er erinnert mit dem Namen in der Klammer
an die Jugendsünden seiner Leser, die - wie ja auch er - irgendwann
einmal die Analyse der Wertform in MEW 23 durchgenommen haben. Man fragt
sich nur, was er da eigentlich gelesen und in seine historische Erfahrung
aufgenommen hat. In Marx' Originalversion ist das "Abstrakte" an der Arbeit
im Kapitalismus nämlich eher nicht als Sinnvergessenheit bestimmt;
und dass das Produzieren in dieser Produktionsweise "nur um seiner selbst
willen" veranstaltet würde, hat Kurz' Berufungsinstanz auch eher überhaupt
nicht gelehrt. Um eventuell interessierten Kurz-Lesern ein paar sachdienliche
Hinweise an dieser Stelle nicht schuldig zu bleiben: "Abstrakt" nennt Marx
die Arbeit in der Marktwirtschaft, weil es in diesem System beim Produzieren
nicht auf ein gutes Leben der arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft
und die dafür nötigen Gebrauchsgüter ankommt - wozu die
Ersparnis von menschlichem Arbeitsaufwand ganz wesentlich hinzugehören
würde: verfügbare Zeit wäre das gar nicht unpassende Maß
gesellschaftlichen Wohlstands! -, sondern ausgerechnet darauf, dass eine
möglichst große Masse, freilich nur: rentabler Arbeit verrichtet
wird: Wirkliches Maß des gesellschaftlichen Reichtums dieser Gesellschaft
ist ein Maximum an rentabel ausgenutzter Arbeitsmühe. Denn bei allem
Produzieren geht es um das aus dem Produzierten erlöste Geld: um Eigentum
schlechthin in der ihm gemäßen "schlagkräftigen" Gestalt
des allgemeinen, global gültigen Tauschwerts; und zwar um immer mehr
und möglichst viel. Wem es um dieses im Wortsinn ‚eigentümliche'
Arbeitsprodukt geht und warum, das gibt Marx schon im Titel seines Hauptwerks
an: "Hinter" der genannten Zweck- und entsprechenden ökonomischen
Formbestimmung der Arbeit steht die im Geld vergegenständlichte Privatmacht
des Eigentums: dessen rechtlich begründetes und abgesichertes Monopol
auf Verfügungs- und Kommandogewalt über die gesellschaftliche
Arbeit und sein systematisch ins Recht gesetztes, also mit Gewalt ausgestattetes
Interesse, vermittels der Arbeit, die es verrichten lässt, sich zu
vermehren. Dass Arbeit "abstrakt" ist und - nicht dies oder jenes, sondern
ökonomisch genau genommen immerzu nur ein und dasselbe, nämlich
im Maße ihres rentablen Stattfindens - "Wert" produziert, hat seinen
Grund also darin, dass sie von kapitalistischen Arbeitgebern veranstaltet
wird, und dies ausschließlich zu dem Zweck - also nur insoweit, insoweit
aber schrankenlos -, dass sie ihnen geldwertes Eigentum schafft; und zwar
mehr davon, als sie für Lohn verausgaben müssen. Dieses Verhältnis
der Bereicherung vermittels fremder, mit Lohn gekaufter Arbeit, deren Ausbeutung,
ist Sinn und Zweck der wertschaffenden Arbeit, der Grund und das ganze
"Geheimnis" ihres "abstrakten" Charakters - den, als abhängige Variable,
dann sogar die Lohnarbeiter selbst sich zu ihrem existenziellen Anliegen
machen müssen; freilich ein wenig andersherum: Als "abhängige
Erwerbspersonen" arbeiten auch sie ausschließlich für Geld;
allerdings nicht für das, das sie produzieren, sondern für das,
mit dem ihr kapitalistischer Arbeitgeber sie als sein Produktionsmittel
kauft. - So viel zwischendrin zur Sache. Um zu Marx' Darstellungsweise
im ‚Kapital' noch ein eventuell klärendes Wort zu sagen: Der Kritiker
der politischen Ökonomie des Kapitals hat als wissenschaftlich versierter
Kopf gemeint, er könnte das Prinzip und die Sachgesetzlichkeit kapitalistischer
Klassenverhältnisse auf die Art am gründlichsten aufklären
und systematisch am besten darstellen, dass er, quasi lehrbuchmäßig,
erst einmal am allgemeinen Begriff des Geldes den allgemeinen Zweck der
Arbeit im Kapitalismus - überhaupt Tauschwert zu schaffen - entwickelt,
dann vom Geld als eigentlichem Arbeitsprodukt und Zweck der Arbeit aufs
Kapital als den eigentlichen Veranstalter - Ursprung, Zweck und Endpunkt
- des gesellschaftlichen Produktionsprozesses schließt und dann die
Lohnarbeit, nämlich die Aneignung unbezahlter Arbeit per Kauf von
Arbeitskraft, als das entscheidende Lebensmittel des Kapitals, also Bereicherungsmittel
der Eigentümerklasse ableitet. Dass 100 Jahre später sinnsüchtige
Leser gleich beim ersten Gedankenschritt das ökonomische Nachdenken
seiner Darlegung einstellen und stattdessen das Philosophieren anfangen
würden, konnte er weder ahnen, noch sollte man es ihm und seiner Darstellungsweise
zum Vorwurf machen. Daran, dass er mit seiner "Arbeitswertlehre" weder
das Produzieren als abstrusen Selbstzweck behaupten noch die innere Sinnlosigkeit
der Arbeit für Geld geißeln, sondern das ökonomische Prinzip
des so einseitig produktiven Verhältnisses zwischen Lohnarbeitern
und kapitalistischen Unternehmern erklären wollte, hat er keinen Zweifel
gelassen - nichts anderes hat er aufgeschrieben. Aber was hilft's, wenn
einer entschlossen ist, die Sinnlosigkeit kapitalistischen Produzierens
und Verelendens ins Bewusstsein seiner Leser zu heben! Kurz - darin durchaus
repräsentativ für eine ganze Schule philosophischer Marx-Exegese
- stellt die ganze schöne Ableitung der politischen Ökonomie
des Kapitals auf den Kopf, löst alle eindeutigen Bestimmungen des
Verhältnisses von kapitalistischem Zweck - Vergrößerung
des von Staats wegen mit Kommandogewalt ausgestatteten Eigentums - und
Mittel - rentable Lohnarbeit in größtmöglicher Quantität
- nach "rückwärts" in die systematisch ersten grundlegenden Attribute
der geldproduzierenden Arbeit auf und erklärt das eigene verständnislose
Staunen darüber, dass es beim Arbeiten im Kapitalismus, statt um die
allgemeine Wohlfahrt, tatsächlich um nichts als Geld und immer mehr
Geld geht, zum "irrsinnigen" Prinzip der gesamten Produktionsweise. Dafür
hätte der Mann wirklich nicht Marx studieren müssen; für
die Weisheit hätten Donald Duck und Onkel Dagobert gereicht!
So bezieht sich der "Schwarzbuch"-Autor also zwar auf den systembildenden
ökonomischen Zweck des Kapitals, aus Geld mehr Geld zu machen, und
auch darauf, dass die Arbeiter sich dem "ausliefern" müssen - aber
eben nur, um zielstrebig von dem Verhältnis abzusehen, das zwischen
dem Zweck und seinem Mittel besteht und eine ganze Gesellschaft in Klassen
scheidet: Nur weil er den Wert vom Mehrwert und die abstrakte Arbeit von
der Mehrarbeit trennt und die kapitalistische Ausbeutung der Arbeit unbedingt
ohne ihren Inhalt denken will, stattdessen am völlig sachfremden Ideal
"eigentlich" doch möglicher Versorgung misst, kommt ihm die unter
ihren kapitalistischen Zweck subsumierte Arbeit als eine einzige Sinnlosigkeit
vor, als der "Irrsinn" eines "Produzierens um seiner selbst willen"; nur
deswegen und wollen ihm Lohnarbeiter als Zugochsen erscheinen, die,
egal womit und egal wofür, also in jeder Hinsicht zweck-, vernunft-
und sinnlos, vor sich hin werkeln. Ein Marxosoph ist unser Linker, einer,
der sich an Marx entlehnten Stichworten entlang hangelt, weil er dem Ideal
eines sinnvollen Lebens und Arbeitens nachhängt und dem Kapitalismus
attestieren will, eine einzige Veranstaltung zur Verhinderung seiner schönen
Idee zu sein. Entsprechend vehement wirft er sich auf alle unerfüllten
moralischen Drangsale, mit denen das moderne klassenübergreifende
bürgerliche Selbstbewusstsein sich in seinem kapitalistischen Treiben
wenigstens ideell Genugtuung zu verschaffen pflegt, und wanzt sich an alle
an, die sich in ihrer Statistenrolle im Erwerbsleben noch immer nicht genügend
selbstbestimmt und selbstverwirklicht vorkommen: Die mit ihren Drangsalen
sind die Berufungsinstanz, die seiner Kritik Überzeugungskraft verleihen
soll. Die weiht er in das polit-ökonomische Geheimnis ein, warum so
viele im kapitalistischen Werkeltag andauernd den ihr Ich befriedigenden
Sinn vermissen - und teilt ihnen mit, dass der Kapitalismus diesbezügliche
Hoffnungen eben nur immer frustrieren kann. Das ist der Dreh, mit dem er
bei allen gut ankommt, die sich im Kapitalismus, wie er geht und steht,
sinnmäßig irgendwie leer fühlen: Den auf seinem eigenen
Mist gewachsenen Ansprüchen an eine befriedigende Sinngebung ist der
einfach nicht gewachsen, was für ein Skandal!
Soweit der Auftakt zur modern-kritischen Lesart der eher gar nicht
modernen und eher sturzaffirmativen Leier vom Elend in der Welt, vom unbehausten
Ich und der Sinnleere seines Arbeitslebens. Damit die schlichte Botschaft
aufs Niveau des gebildeten Geistes der Zeit passt, pflanzt der moderne
Kritiker ihr einfach eine riesige Hyperbel auf, welche es zugleich gestattet,
von der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie endgültig loszukommen
und zum Kulturkritiker der Arbeit zu konvertierenpromovieren. Er interpretiert
sich das Elend, das zum Kapitalismus gehört wie das Amen zur Kirche,
als Machenschaft eines Systems zurecht, das, von niemandem gewollt und
bezweckt, ein permanentes Übel produziert. SPlanmäßig und
solange abstrahiert er planmäßig von der ganzen sehr zweckmäßig
eingerichteten kapitalistischen Welt von Gewalt und Geschäft, bis
er bei der vorgestellten Monströsität einer organisierten Grund-
und Zwecklosigkeit angelangt ist, an die er sich dann die Menschheit in
ihrer arbeitenden Mehrheit ausliefern lässt. Ein moralisch durch und
durch verachtenswerter Selbstzweck waltet da also, den der intellektuelle
Kritiker erschöpfend auf seinen Begriff bringt, indem er sich demonstrativ
ans Hirn fasst und ihn "Irrsinn" nennt.zu ihm sagt. Die Politische Ökonomie
einer verhängnisvollen Sinnlosigkeit; die Enttarnung des Kapitalismus
als "Weltuntergangssekte", die Imagination einer Produktionsweise als verschworene
Glaubensgemeinschaft blinder Irrer: das muss dem Markt für kritische
Literatur offenbar noch gefehlt haben.
"Die schwarze Utopie der totalen Konkurrenz": Wie alle großen Denker
die Welt als Irrsinn entlarven
Dem Kritiker ist bekannt, dass im Kapitalismus rechtlich einander gleichgestellte,
aber sehr unterschiedlich bemittelte Privatsubjekte sich auf Kosten
des jeweils anderen an der Mehrung ihres Eigentums zu schaffen machen.
Seit Marx heißt das Konkurrenz. Wie ins Thema "Massenelend", so führt
R. Kurz auch in die Betrachtung der kapitalistischen Konkurrenz ein, indem
er ausmalt, was für ein Verhängnis mit der über die Menschen
hereingebrochen ist. Aus dem Umstand, dass diese in der Tat eine alle Lebensbereiche
durchdringende und diese bestimmende Macht, in diesem Sinne also wirklich
total ist, fabriziert der Abstraktionskünstler Kurz im Handumdrehen
ein eigenes Subjekt. Er lässt einfach alles, was den Grund dieser
Macht betrifft, im Dunkeln - und schon ist "total" für ihn nicht mehr
das bloße Attribut zur Sache, sondern die Sache selbst: "Totalitarismus"
ist ihre Wesensbestimmung, also wieder ein einziges Übel, das man
sich dann wieder an seinen Erscheinungsweisen vergegenwärtigen darf.
So kommt zwischen dem Prinzip Nr. 1, der "Verwandlung von Geld in mehr
Geld als Selbstzweck" (34), und, als dessen Derivat, dem Prinzip Nr. 2,
dem "Totalitarismus des Marktes, dem sich die Menschen bedingungslos unterwerfen
sollen", die vorkapitalistische Gemütlichkeit einer "kulturelle(n)
Einheit" unter die Räder. Das ist ein Verlust, weil die Epoche von
Herrschaft und Knechtschaft im Vergleich zu der, die gleich kommt, eine
feine Sache war, sie nämlich "sowohl soziale Kontrolle als auch ein
gewisses Maß an Geborgenheit vermittelte" (35). Und wer könnte
diesmal besser bezeugen, dass das Wesen, das da das sinnvolle Leben in
einer sozialen Idylle zertrampelt, Werk anonymer Mächte und vor sich
hin waltender Prinzipien ist, als die ganze Schar von Dichtern und Denkern,
die das so oder ähnlich, mit solchen oder anderen Prinzipien, schon
immer behauptet haben? Mit Ideologiekritik hat ja auch bei Marx die Kritik
des Kapitalismus angefangen, also marschieren passieren auch in ihrer modernen
Ausgabe die Ideologen des Kapitalismus aufRevue. Allerdings etwas anders,
schließlich leben wir in der Moderne der Kritik: Unser Kritiker mustert
die bürgerliche Ideengeschichte nach Kronzeugen seiner Sinngebung
des Kapitalismus durch; er beurteilt nichts und niemanden, sondern greift
sich heraus, was zu dem moralischen Bild passt, das er von diesem System
im Kopf hat, wobei es ihm absolut gleichgültig ist, ob die Ideen,
die er für sich sprechen lässt, von ihren Erfindern als Parteinahme
für oder gegen den Kapitalismus gedacht wurden, ja, ob es zu dem Zeitpunkt,
als sie erfunden wurden, die Verhältnisse überhaupt gab, die
unser Kritiker im Auge hat. Th. Hobbes zum Beispiel. Der hat sich - verglichen
am heutigen politikwissenschaftlichen Standard des Argumentierens - sehr
unbefangen und ehrlich um die Rechtfertigung des modernen bürgerlichen
Staates bemüht. Der war einfach parteilich für die Gewalt, die
da in ihrem Entstehen war, und hat sein Votum, dass es sie zu geben hat,
als Urteil über sie ausgedrückt: Einmal gründlich davon
abgesehen, dass die Welt von Recht und Eigentum Werk staatlicher Gewalt
ist, also ein Gewaltmonopol unterstellt, ließ er sich von einem Blick
ins wirkliche Leben schlagartig darüber belehren, wie bitter nötig
doch angesichts der Gegensätze, die sich da zwischen den Eigentümern
austoben, ein Monopolist der Gewalt ist, der die Menschen, die sich ja
offensichtlich von Natur aus nur an die Gurgel fahren wollen, unter Kontrolle
hält. Auf diese wirklich nicht übermäßig schlaue Ableitung
des Staates als Naturnotwendigkeit bezieht unser Ideologie-Kritiker sich
- und schreit laut Heureka! Hobbes Bild vom Menschen genauso wie das vom
biblischen Gewaltmonster Leviathan: Das ist er exakt, der Kapitalismus,
in etwa so, nämlich als gewaltsames Monster denkt Kurz sich den auch.
Für ihn würden sich "die abstrakten Individuen" wirklich so aufführen,
wie der Staatsableiter sich seine Horde Eigentümer ohne Staat auspinselt.
Für ihn würden sie sich "in ihrer mörderischen Konkurrenz"
allen Ernstes tatsächlich "gegenseitig völlig zerfleischen
und auffressen", ließe man sie unbeaufsichtigtkönnten sie dies
nur - und daher bringt Hobbes, indem er sich "den Staat als notwendige
Zwangsgewalt" (39) zurecht "konstruiert", die Sache auf ihren Punkt: Ein
Monster knechtet Menschen, die es nicht anders verdienen, typisch Kapitalismus!
Doch nicht nur den realen Abgrund von Schlechtigkeit und Menschenverachtung
des Kapitalismus bezeugt dieses "Leitbild des Liberalismus" (39). Praktisch
"überall, wo Menschen zu den Kunststücken des Geldes und der
'abstrakten Arbeit' dressiert werden wie Zirkustiere, müssen die Dompteure
im Namen der Macht mit der Peitsche drohen und" - wie unser marxistisch-leninistischer
Bestechungstheoretiker irgendwann einmal auch gelernt hat: "mit klebrigen
kleinen Belohnungsbonbons locken". (43) Aber er geht ja mit der Zeit. Daher
ist er mit einem schlichten Igittigitt! fertig mit seinem Argument und
hat mit dieser demonstrativen Kundgabe seiner abgrundtiefen Verachtung
im Wesentlichen auch gleich alle herrschaftlichen Spielarten vom Faschismus
über die Demokratie bis zum Staatssozialismus erschöpfend auf
ihren Begriff gebracht: Panem & circenses, Zuckerbrot & Peitsche.
Allesamt sind sie Variationen ein und desselben Bildes vom Kapitalismus
als vor sich hindrehendem Laufrad und vom Menschen als dem willenlosen
Hamster drin, der dazu manipuliert wird, es in Bewegung zu halten. Doch
zu den Einzelheiten, mit denen der Kritiker seine Dialektik von Selbstlauf
und Manipulation zusammenbaut, ist noch ein langer Weg, auf dem als Nächster
ein gewisser Mandeville das Vorhandensein der "niedrigsten sozialen Instinkte"
(47) im Kapitalismus bezeugen darf. Schon wieder dadurch, dass der blendende
Hermeneutiker, der hier die Geistesgeschichte aufrollt, einem Ideologen
und Apologeten des Kapitalismus schlicht und ergreifend jeden Spruch als
gültige Auskunft darüber abkauft, wie es um die Welt bestellt
ist: Er zitiert ihn einfach, und belegt hat mit dem Zitat seine eigene
Auffassung nichts weniger zur Sprache gebracht als die über die "wahre
Natur der westlich-kapitalistischen 'freien Nationen'" (51). Dito de Sade,
mit dem auch wir ganz bestimmt nicht gerne länger im selben Zimmer
sä säßen. Aber sicherlich nicht deswegen, weil dieser Sack
mit seiner öden, aber doch sehr konkret interessierten Phantasie ausgerechnet
die "monadische Form des kapitalistischen Menschen schon in der Frühphase
dieser abgründigsten aller bisherigen Gesellschaftsordnungen" (53)
entdeckt hätte. Kant mit seinem 'Schöpfergott' und Smith mit
seiner 'unsichtbaren Hand' stehen in etwa für dasselbe - nicht für
Beispiele affirmativen Denkens einer höheren Ordnung und Weltvernunft,
in der die Monaden eingebettet sind. Vielmehr dafür, dass sich auch
in ihren Ideen nur exakt die Monströsität widerspiegelt, wie
sie real gerade im Entstehen ist. Dabei zeigt der Kritiker, worin in Sachen
Analogie-'Schluss' allein die wahre Meisterschaft besteht. Man muss nur
beispielsweise konsequent an der Abstraktion 'System' weiterdenken und
sich fragen, was denn noch zu ihr passt, und schon findet sich, wonach
man sucht: "Erst der blinde Systemprozess des totalen Marktes konnte in
der affirmativen Reflexion so etwas wie das moderne Systemdenken hervorbringen"
(72). So "bringt" ein - auch noch blinder - Prozess ein Denken "hervor",
von dem man gar nicht mehr zu wissen braucht, als dass es - 'System' sagt
es ja - zu seinem Geburtshelfer passt. Für keine Sottise der modernen
Geisteswissenschaft ist dieser vulgärmaterialistische Abbild-Theoretiker
sich zu schade: Weil ohne ein System das Systemdenken wohl nicht möglich
gewesen wäre, soll man es ihm zufolge einfach als Ausdruck von dem
System denken, das es gibt, und mit dieser griffigen Formel stiftet er
einen Begriff der Sache, bei dem man von gar nichts irgendetwas begriffen
haben muss, weder von dem, was sich da ausdrücken, noch von dem, worin
es sich ausdrücken soll. Und nach diesem Muster geht's weiter dahin,
bis zu Bentham, dem Liebling unseres Ideologiekritikers. Der ist von Beruf
Glücksphilosoph - ja, das waren noch Zeiten; heute ist man Unglücksphilosoph;
doch dazu später -, und nach Auffassung des Interpreten hat man es
bei seinen Texten mit den "Auslassungen eines Irren" (87) zu tun. Mag ja
sein. Aber als dieser Als Irrer mit seinen Ideen, wie die Insassen von
Besserungsanstalten, Gefängnissen, Manufakturen oder Armenhäusern
unter Aufsicht zu halten sind - ein "Panoptikum" fällt ihm da halt
ein -, ist er für Kurz gefundenes Fressen, weil eine einzige bildliche
Darstellung des abstrakten Prinzips, das er im Kopf des Kritikers spukthat
- "alle kontrollieren sich selbst und einander wechselseitig im Namen einer
subjektlosen Vernunft, der Vernunft des verselbständigten Systems
von 'Arbeit' und 'Verwertung'" (88). Für unseren Kenner der Literatur
wird daKlar und ihm "auf den ersten Blick erkennbar, dass Bentham Orwells
'1984' um nahezu zweihundert Jahre vorwegnimmt" (89), was ihm unserem Literaturkenner
natürlich die unbezweifelbare Richtigkeit beider beweist und ganz
nebenbei zur Gewissheit werden lässt, dass auch die spätere Demokratie
"die Herrschaftsform der panoptisch gezwiebelten selbstregulativen Subjekte"
(89), also ein ziemlicher Irrsinn ist.
Soweit die moderne kritische Rezeption eines kleinen Stücks bürgerlicher
Geistesgeschichte. In ihrem Resultat läuft sie darauf hinaus, dass
die ideologischen Denker in ihrem erdachten Unsinn erstens "mit ihren Ideen
reagierten" auf "die schon existierenden Objektivierungen der Marktwirtschaft".
Dass ihre Reaktionen zweitens ihrerseits Reaktionen hervorriefen, ihr Irrsinn
Fleisch wurde und "wirkmächtig in die weitere Objektivierung dieses
paranoiden Zuchthaus-Systems" einging (100). Dass drittens also nicht nur
die Objektivierungen der Marktwirtschaft von dem gar nicht so recht zu
unterscheiden sind, was ein Paranoiker womöglich als objektiviertes
Zuchthaus identifiziert. Sondern sich viertens auch noch die Idee des Zuchthauses
von ganz allein dazu aufmachen kann, sich als Marktwirtschaft zu objektivieren.
Gottlob kann unser Kritiker da den Überblick bewahren, ist für
ihn doch im Wesentlichen ohnehin alles ein und dasselbe. Irrsinn halt.
"Die Geschichte der ersten industriellen Revolution": Wie ein Irrsinn sich
als Dampfmaschine manifestiert
Moderne Ideologiekritik geht also so, dass der Kritiker sich dazu entschließt,
den Spruch von den 'herrschenden Gedanken' einfach wortwörtlich zu
nehmen und sein Quidproquo als fix und fertige Kritik von beidem, als Kritik
des für das Herrschende parteilichen Denkens ebenso wie als Kritik
dessen vorstellt, was da herrscht. Insofern - wir befinden uns in der Mitte
des 18. Jahrhunderts - ist die Geschichte des Kapitalismus eigentlich
abgeschlossen: Eine "Selbstzweck-Maschine mit ihrem basalen Verhältnis
von 'abstrakter Arbeit' und Geld" (102) auf der einen und ein Denken, für
das "der Fortschritt wegen der angeblich für immer abgeschlossenen
Form der Gesellschaft nicht mehr weitergehen durfte", auf der anderen Seite
machen den Kapitalismus perfekt zu dem hermetisch abgeriegelten "Irrenhaus",
das er in der Anschauung unseres Kritikers ist. Was soll sich da noch entwickeln,
geschichtlich? Und in der Tat - genau das Problem, einen Kapitalismus als
irren Selbstzweck und Maschine durch die Geschichte zu schleppen, hatten
vor R. Kurz auch die Ideologen der bürgerlichen Welt: "Deshalb" -
wirklich: deshalb! - "verlegte das bürgerliche Denken seinen Schwerpunkt
zunehmend auf die Organisations- und Naturwissenschaft. (...) Nachdem Newton
das Universum zur physikalischen, Smith die Gesellschaft zur 'schönen'
ökonomischen Weltmaschine erklärt, de Sade die anonyme Sexmaschine
erfunden und La Mettrie sogar den Menschen selbst als Maschinenwesen definiert
hatte, war es nur folgerichtig, dass sich der 'Weltgeist' des Kapitalismus
auf die technologische Entwicklung nach seinem Bilde verlegte. Gleichzeitig
objektivierte sich auch dieses Moment des kapitalistischen Denkens, und
zwar getrieben durch die Dynamik der Konkurrenz. (...) Die Marktteilnehmer
wurden zu einer permanenten 'Produktivkraftentwicklung' genötigt,
um das eigene Angebot marktfähig zu halten." (102 f.) Ein kleines
Kind, brächte es denn so etwas zustande, müsste man da geistig
behutsam an die Hand nehmen und ihm Schritt für Schritt erläutern,
dass Naturwissenschaft anders geht als die Schwerpunktverlagerung eines
Denkens zu ihr hin. Dass man zum Ausdruck seiner Gedanken zuweilen auch
gut zu bildlichen Vorstellungen greifen kann, deswegen aber nicht gleich
das Bild mit der Sache gleichsetzen darf, die da gedacht wird. Dass es
deshalb sehr darauf ankommt, ob die Gedanken stimmen, die sich in Bildern
zusammenfassen, man also gut beraten ist, erst die geistigen Konstruktionen
zu überprüfen, mit denen da so manches zur Maschine erklärt,
definiert oder als solche erfunden wird, bevor man sich der Auffassung
anschließt, Natur, Mensch und Ökonomie wären wirklich Maschinen.
Aber was soll man einem erwachsenen Intellektuellen sagen, der den Bildern
falscher Gedanken die Existenz eines maschinenmäßig verfassten
Geistes entnimmt und den dann solange vor sich hindenken lässt, bis
er sich in Gestalt der Dampfmaschine endlich wieder erkennen kann? So konstruiert
sich eben eine fixe Idee die Welt nach ihrem Geschmack zurecht, zaubert
ein abstraktes Subjekt nach dem anderen in sie hinein, nach dem Weltgeist
eben "die Dynamik" einer Konkurrenz, fingiert sich so die Einsicht
in eine tiefere Notwendigkeit, die einem den Gang der Dinge jedenfalls
plausibel macht, und kann dann mit diesem abstrakten Muss im Kopf triumphierend
darauf deuten, dass es ja genau so kam, wie es kommen musste: "In demselben
Maße, wie der Motor der Konkurrenz ansprang, wurde der Durchbruch
der ersten industriellen Revolution unvermeidlich." (103) So wissen wir
also, dass im selben Maß, indem er vollzogen wurde, der Durchbruch
der Industrie unvermeidlich war, und mit ihm auch noch anderes mehr: "Die
Entwicklung der Maschinenkräfte führte (..) nicht, wie es notwendig
und sinnvoll gewesen wäre, zu einer vorgeordneten Kommunikation der
alten handwerklichen Produzenten über die gemeinschaftliche Kontrolle
der vernetzten Produktion". (111) Und warum nicht, wo doch schon im "so
genannten Mittelalter durchaus eine technische Entwicklung festzustellen
(ist), die durch eine autonome emanzipatorische Bewegung der Produzenten
hätte forciert werden können" (108)? Der Kritiker kann über
den Gang der Dinge nur schon wieder seine tiefe Frustration zu Protokoll
geben. 'Technik' Hand in Hand mit 'Emanzipation' - für ihn wäre
das schon im Mittelalter gut möglich gewesen. Schon gleich im Zeitalter
der Maschine. Zwar stellt da der Kapitalismus ganz real und praktisch vor
Augen, dass in ihm und für ihn die Vorstellung des Kritikers weder
"notwendig" noch "sinnvoll" ist. Aber einer, der als Anwalt einer höheren
Weltvernunft unterwegs ist, entnimmt dem nur den Beweis, wie richtig er
mit allem liegt, was er sich im Irrealis als Bewegungsgesetz der Geschichte
ausgedacht hat, und schafft von der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte
sogleich wieder den Absprung zum Selbstlauf, dem der Gang der Dinge unterliegt:
"Aber bevor diese Möglichkeit in Erwägung gezogen und ausprobiert
werden konnte, drängte sich die vom Absolutismus entfesselte Konkurrenz
der betriebswirtschaftlichen Einheiten (...) gewaltsam auf." (109) Die
also war's, eben nicht seine, sondern eine "Vernunft der Betriebswirtschaft"
hat die feine Ware, die man doch anders ganz vernünftig nützen
könnte, für sich in Beschlag genommen. Und warum tat sie dies?
Tja, sie ist halt so, einfach "irrational", "irr" und "gesellschaftlicher
Irrsinn". So einfach geht das moderne Kritisieren: Man stellt sich dem
gegenüber, wie und warum die Welt so und nicht anders eingerichtet
ist, stur ignorant und stattdessen vor, wie sie ganz anders eingerichtet
sein könnte, irgendwie 'vernünftig' zum Beispiel und obendrein
gemütlich, mit viel 'Gemeinschaftlichkeit', 'Emanzipation' und so
feinen Sachen. Und weil die Welt hinten wie vorne nichts von dem verrät,
was der Idealist in ihr gerne vorgefunden hätte, ist es für ihn
eben das Fehlen seiner vorgestellten Ideale, was den Grund aller Übel
ausmacht: Zum Irrsinn wird das kapitalistische System für ihn, indem
er es als Abweichung von der Vernunft demaskiert, die er gerne in der Welt
gesehen hätte, und diesen Irrsinn belegt er dann. Zuerst mit dem,
als was er in seiner Eigenschaft als Marx-Ausleger sich die Kapitel 10
ff. im dritten Band des Kapital hat einleuchten lassen: "Die kapitalistische
Produktionsweise gerät dadurch in einen unlösbaren logischen
Selbstwiderspruch. Denn auf der einen Seite ist es ihr absurder Selbstzweck,
die Akkumulation 'abstrakter Arbeit' in eine Akkumulation von ökonomischem
'Wert' zu verwandeln, dargestellt als pulsierendes Wachstum des Geldkapitals
um seiner selbst willen. Auf der anderen Seite aber ersetzt dieselbe irre
Vernunft mit zunehmender Produktivkraftentwicklung menschliche Arbeit und
höhlt so die Substanz der 'Wertschöpfung' selber aus. (...) Auf
den Märkten muss dieser Widersinn schließlich als krasses Missverhältnis
von wachsenden Produktmassen und schrumpfender Kaufkraft in Erscheinung
treten." (110) Was diese "irre Vernunft" und das Absurde des Kapitalismus
betrifft, so bestehen wir hier wieder mal auf Richtigstellung in sachlicher
Hinsicht. Der Selbstzweck dieses Systems akkumuliert keineswegs erst abstrakte
Arbeit, um sie anschließend in Wert "verwandeln" und den dann als
um seiner selbst willen gewachsenes Geldkapital "dargestellt" anglotzen
zu können. Der Produktionszweck 'abstrakter Reichtum' subsumiert vielmehr
die Arbeitskraft unter den Zweck, Mehrwert zu liefern, den sich ihre Anwender
aneignen: Das macht das Arbeiten kapitalistisch rentabel. Nur unter dieser
Bedingung findet Arbeit im Kapitalismus überhaupt statt, und nur um
die Arbeit rentabler auszubeuten, entfesselt das Kapital die Produktivkräfte,
senkt die notwendige Arbeitszeit, die die Lieferanten der Mehrarbeit für
die Reproduktion ihrer Arbeitskraft brauchen, um im selben Zug die unentgeltliche
Mehrarbeit zu steigern. Die Anwendung des Hebels des Kapitals, Arbeit rentabel
zu machen, also bezahlte Arbeit einzusparen, führt dazu, dass immer
weniger von der Arbeit notwendig ist und stattfindet, von der ihre kapitalistischen
Anwender es nicht genug kriegen kaönnen: Das Kapital steigert die
Produktivität der Arbeit so, dass weniger Arbeitskräfte immer
gewinnbringender arbeiten, während sich andere dadurch nicht mehr
rentabel ausbeuten lassen. Die Unbrauchbarkeit der für den Profit
Überflüssigen beweist dann schlüssig, dass ihre Arbeit zu
teuer angeboten wird. über den Punkt hinaus, an dem sich ihre weitere
Verwendung noch lohnt, und erklärt dann, wenn es zu viel für
seine Verwertung produziert hat, - die Arbeiter, die es nicht mehr rentabel
ausbeuten kann, für überflüssig! Wäre es also nur so,
wie Kurz meint, und dies alles ein "unlösbarer logischer Selbstwiderspruch":
gut könnte man diesen kapitalistischen Irrsinn sich selbst und den
Kapitalisten überlassen, die ihn betreiben. Aber dieses System ist
eben nicht nur absurd. Es ist auch noch perfide genug, seinen Widerspruch
von anderen ausbaden zu lassen - und betreibt ihn über die Verelendung
und Außerdienststellung derer weiter, die von Lohn zwar leben müssen,
dies aber immer weniger gut oder gar nicht mehr können.
Soweit von unserer Seite ein kleiner Einschub zur Differenz zwischen
einer Kritik der kapitalistischen Ratio, den Einsatz von Arbeit nach dem
Gesichtspunkt ihrer Rentabilität zu kalkulieren, und dem Bedürfnis,
dieser praktisch geltenden Rationalität ein Ir- voranzustellen und
damit mit ihr fertig zu sein. In letzterem Fall schrumpft eben die große
kritische Pose, das System bei seinem letalen Widerspruch erwischt zu haben,
auf das lausige Ätschi-Bätsch! zusammen, mit dem ein soziologisch
verbildeter Intellektueller einem grund- und zwecklos vor sich hin machenden
System ein weiteres negatives Etikett verpasst und ihm bescheinigt, dass
es sich selbst untergräbt. Nicht einmal sich selbst am Laufen halten
zu können: Das haben ja schon die großen Systemdenker T. Parsons
und N. Luhmann gewusst, dass das ja wohl das Allerschlimmste ist, was man
zu einem System noch sagen kann, und so kommt marxistische Aufklärung
unter die Massen, indem der moderne Kritiker aus dem "Gesetz des tendenziellen
Falls der Profitrate" das soziologische Wischiwaschi vom unvermeidlichen
Kollaps des Systems drechselt, dessen Heraufziehen dann jeder Agent des
Systems auch noch tagtäglich praktisch erfährt: Weil der Kapitalismus
partout nicht dieses emanzipatorisch-gemeinschaftliches Netzwerk von Produktion
sein will, das ein Kurz vernünftig fände, braucht er sich nicht
zu wundern, wenn seine "Produktmassen" mal keine Käufer finden! Denn
wer nicht hören will, muss fühlen, und wer selbstzweckmäßig-unvernünftig
vor sich hin akkumuliert und die Produktivkräfte entwickelt, dass
es kracht, dies "aber völlig kommunikationslos" tut "und daher mit
paradoxen Wirkungen", hat sich die Verachtung seines Kritikers gründlich
verdient .
Steht für Kurz so fest, dass es wegen der Abwesenheit seines Ideals
einer ordentlichen Verständigung zwischen allen Beteiligten im Kapitalismus
auch Arbeitslose und Krisen geben muss, darf auch kommt Engels als Berichterstatter
zur Lage der arbeitenden Klasse die Weltsicht von Kurz bestätigenzu
Wort. Kinderarbeit und andere Errungenschaften des kapitalistischen Systems
belegen dann zur Überraschung Aller, "dass in den 'Mühlen des
Teufels' der Traum eines gemeingefährlichen Irren wie Bentham endlich
gesellschaftlich verallgemeinert wurde" (121). Das tun dann auch die Maschinenstürmer
und Ludditen andersherum, weil ein guter Interpret wie Kurz den Griff zum
Vorschlaghammer eindeutig als Versuch identifiziert, "eine selbstbestimmte
Vergesellschaftung jenseits blinder Preismechanismen durch direkte menschliche
Verständigung zu finden" (138). Womit wir explizit bei Marx wären:
"Obwohl er gelegentlich andeutet, dass sich die soziale Repression und
irrationale Organisationsform des Kapitals durchaus auch in seiner technologischen
Gestalt niedergeschlagen hat, blieb dieser Aspekt, der in den Augen der
Sozialrebellen der hervorstechende war, in seiner Theorie unterbelichtet.
Ja sogar ein klammheimliches Liebäugeln mit der industriellen Disziplinierung
wird sichtbar, wenn er von der 'durch den Mechanismus des kapitalistischen
Produktionsprozesses selbst geschulten Arbeiterklasse' spricht. (...) Marx
meinte den Begriff der 'abstrakten Arbeit' zwar eigentlich kritisch, grenzte
ihn jedoch keineswegs eindeutig gegen ein affirmatives Verständnis
ab; bei ihm verschwimmen ein kritischer und ein positiver Arbeitsbegriff
ständig ineinander." (171) Endlich mal ein kritisches Wort zu einem
Ideologen! Just den Gesichtspunkt, unter dem unser kritischer theoretisierender
Sozialrebell den Kapitalismus belichtet und für schlecht befunden
haben möchte, hat Marx nicht in Anschlag gebracht! Eine Theorie, die
seine Kritik des Kapitalismus begründet, hat er zwar gehabt. Aber
die taugt für unseren Marx-Widerleger nicht viel, weil Marx so Begriffe
wie 'Arbeiterklasse' und 'abstrakte Arbeit' einfach nicht ordentlich definiert,
nie dazugesagt hat, welche Absicht er mit ihnen verfolgt und für welche
sie eigentlich gut sein sollen, fürs Kritisieren oder fürs Affirmieren.
Genau genommen kann nur Letzteres der Fall sein. Denn eine Theorie wie
die von Marx, die einfach nur erklärt, welche Interessen im Kapitalismus
wie und warum unter die Räder geraten; der aus ihr resultierende praktische
Schluss, die Geschädigten sollten in ihrem eigenem Interesse eine
Produktionsweise zum Teufel hauen, bei der die Schaffung des Reichtums
auf ihrem bleibenden Elend beruht -: Das ist für den Radikalkritiker
Kurz keine Kritik. Als hätte Marx nicht mit der Parole: "Nieder mit
dem Lohnsystem!" alle Flausen in Sachen ‚gerechter Lohn fürs gerechte
Tagwerk' gründlich erledigen wollen, bezichtigt ihn der moderne Kritiker,
mit seiner Ansprache an die Arbeiter nur für die "irrationale Selbstzweckmaschine"
und ihr fröhliches Weiterwirken Partei genommen zu haben: Für
diesen Marx-Entlarver ist es genau besehen dem Kritiker der politischen
Ökonomie des Kapitalismus zu verdanken, dass der "Begriff der sozialen
Emanzipation von nun an in das kapitalistische Tätigkeits-Prinzip
(eingekerkert) wurde" und Marx mit seiner bloßen Rede von einer 'Arbeiterklasse'
den Willen ihrer Mitglieder auf ewig an die "marktwirtschaftliche Tretmühle"
(173) gefesselt hat. Die klappert also weiter vor sich hin, und zwar nicht
nur dank der Mithilfe von Marx und des späteren "Arbeiterbewegungsmarxismus",
sondern auch noch mit einem weiteren perfiden Trick. Denn anstatt in seiner
eigenen Paradoxie zusammenzusinken, entschließt sich der kapitalistische
Weltgeist zum Weitermachen. Angesichts des Massenelends und der Arbeitslosen,
die er mit seinen Maschinen produziert und mit denen er seine eigene "selbstzweckhafte
Geldmaschine" bekanntlich unterhöhlt, verwandelt er sich in noch einen
"ökonomischen Mechanismus". Der ist "heute als struktureller Wachstumszwang
(...) bekannt" (189), ein Wesen, das man sich so vorstellen muss, dass
sich der Selbstzweck zu seiner eigenen Expansion entschließt und
sich der dann als Zwang gegenübergestellt sieht, dem er unterliegt.
So wissen wir, wie kapitalistisches Wachstum geht: Das Akkumulieren bricht
deswegen nicht zusammen, weil immer mehr Akkumulierer immer mehr akkumulieren
müssen und das dann genau deswegen auch prompt tun: "Mit einem Wort:
Der Kapitalismus hatte sich in ein industrielles Schneeballsystem verwandelt;
er konnte überhaupt nur noch in dieser Form weiterexistieren, während
gewissermaßen auf seinem logischen Grund weiterhin und unaufhebbar
die Drohung des Zusammenbruchs lauerte. Letztendlich muss jedes Schneeballsystem
einmal zusammenbrechen." (198)
Letzteres stimmt sicher. Die Frage ist nur, ob man deswegen auch den
Kapitalismus als eine Selbstinszenierung zur Verhinderung seines eigenen
Zusammenbruchs betrachten soll. Aber für alle Intellektuellen, die
schon immer wussten, dass "es" so nicht weitergehen kann, zumindest nicht
gut, hat diese Denkfigur schon ihren Reiz.
"Das System der nationalen Imperien": Wie eine irre Kostenrechnung zum
Imperialismus führt
Wir streifen nur einige Bausteine, mit denen Kurz sein WeltbBild vom Kapitalismus,
der es nie hinkriegt, für ein gutes Leben zu sorgen, im Gleichschritt
mit den Zeitereignissen hält. Auch Bismarck und die Sozialistengesetze
nebst Sozialstaat laufen für unseren Chronisten auf die schon bekannte
Peinlichkeit hinaus, dass der Kapitalismus zur Ernährung seiner Massen
einfach "nicht imstande" ist - "so peinlich es ist, auch an der Schwelle
des 20. Jahrhunderts und mitten in der Expansion des industriellen Schneeballsystems
war der Ernährungsstand immer noch nicht merklich gestiegen" (216).
Der Germanist in Kurz belehrt uns darüber, dass man die "Ahnung vom
wahren Wesen des Selbstzweck-Monstrums" (221), das sich in Gründerschwindel,
der Großen Depression, Börsen- und anderen Krisen - immer kündigt
der Kapitalismus an, wie reif er für seinen Zusammenbruch ist, um
den dann doch noch zu vertagen - manifestieren sollte, bei Th. Mann herausspüren
kann. Der Sozialwissenschaftler hat herausgefunden, dass, "damit der kapitalistische
Betrieb überhaupt noch laufen kann" (230), ein gewisser Staat immer
mehr "Krücken" zur Verfügung stellen muss, usw. All das überrascht
beim bisher erreichten Stand des Wissens nicht mehr übermäßig.
Spannender wird es wieder beim Auftreten eines neuen Subjekts, des Staates
in seiner Eigenschaft des ideellen Gesamtkapitalisten, der mit seinesgleichen
in Verkehr tritt. Und kaum nimmt der Autor dieses Subjekt in sein kritisches
Visier, ist auch dieses so recht keines mehr, verfolgt nicht Zwecke, die
es hat, sondern exekutiert Notwendigkeiten, die ihm von einer inzwischen
schon recht gut bekannten Maschine diktiert werden: "Der abstrakt gewordene,
nicht mehr an Personen gebundene Funktionszusammenhang von Staat und Nation
(...), der als leviathanische 'Überperson' auftrat, hatte nicht nur
die Rechts- und Infrastruktur-Verhältnisse etc. der Konkurrenzsubjekte
im Inneren der Nationen zu regulieren, (...) da es auf der Weltebene keine
dem Nationalstaat entsprechende 'weltstaatliche' regulierende Meta-Instanz
geben konnte, musste der nationale Staatsapparat als Hilfs-, Garantie-
und Durchsetzungsmacht hinter den Außenbeziehungen 'seiner' Unternehmen
stehen" (251). Interessant, was aus einem Staat so alles wird, betrachtet
man ihn als guter Politologe einmal als abstrakten Funktionszusammenhang.
Da steht über ihn unverrückbar fest, dass er nichts anderes tut,
als Funktionen zu verrichten, also in jedem Fall für etwas gut und
nützlich ist. Hier zum Beispiel springt der imperialistische Nationalstaat
als Lückenbüßer für einen nicht vorhandenen Weltstaat
ein. Danken wir ihm also ersteinmalmals dafür . Aber manchmal,
das hat die Logik dieses Gedankens eben in sich, funktioniert ein Funktionszusammenhang
eben auch nicht. Dann bleiben die guten Werke aus, und wir haben wieder
einen Grund für kritische Bedenken, denn augenblicklich kündigt
sich das nächste Verhängnis an: "Dass die internationale Konkurrenz
der nationalen Großsubjekte auf dem Weltmarkt im Unterschied zur
binnenökonomischen Konkurrenz keinen juristischen und administrativen
Rahmen entwickeln konnte, machte sie zu einer zunehmend gefährlichen
Angelegenheit." (251 f.) Für unseren modernen Staatsapologeten geht
die Kriegsgefahr also nicht von Staaten aus, die die Konkurrenz in ihrem
Inneren organisieren, um sie nach außen gegen Ihresgleichen aufmachen
und gewinnen zu können. Nein, "die Konkurrenz" ist das Subjekt, das
nach außen nicht schafft, was sie im Inneren hinkriegt. So lernen
wir nicht nur, dass die Weltgeschichte von abstrakten Wesenheiten und "Großsubjekten"
gemacht wird, die ein großer Dichter mit links aus Attributen, Verben
oder Adverbien verfertigt. Wir lernen vor allem auch, wie bitter nötig
in Anbetracht von deren ungezügeltem Wirken da eine Macht ist, die
den Gang der politischen Dinge im Inneren wie nach außen unter Kontrolle
hält, und wenn man mit diesem I. Hauptsatz aus dem Grundkurs für
politologische Apologie des Staates im Kopf in die Welt hineinsieht, entdeckt
man in der immer wieder, was ihr fehlt. So jedenfalls, wie der Staat als
Souverän, Monopolist aller Gewalt, in seinem Hoheitsbereich für
Kurz nicht Schöpfer und Garant des Rechtszustands ist, sondern den,
der offenbar vom Himmel gefallen ist, lediglich "reguliert", so ist er
auch nach Außen hin das entsprechend armselige Würstchen, stipuliert
nicht sein eigenes Recht gegen andere Souveräne, treibt nicht aus
eigenem Interesse heraus Politik, sondern stellt sich "hinter" die Interessen,
die er vorfindet. In etwa so ähnlich haben sich vor Kurz auch schon
Andere den Imperialismus verkehrt erklärt, und genau die sind es,
gegen die unser Kapitalismuskritiker vorgeht. Was immer sich da "die Marxisten"
zum Zusammenhang von kapitalistischer Ratio, Kolonialismus und Krieg gedacht
haben mögen: Ihr unglaublicher Fehler war, überhaupt noch so
etwas anzunehmen wie ein irgendwie nachvollziehbares "rationales Interessenkalkül"
staatlichen Handelns und überhaupt noch - wie gut oder wie schlecht
begründet, ist Kurz ohnehin egal - zu vermuten, "dass alles, was die
Kapitalisten und der kapitalistische Staat tun, auch gut für den Kapitalismus
sein müsse." (256) Da kann er doch nur laut lachen. Gigantische Rüstungsprojekte
mit riesigen Militärhaushalten finanziert - ist doch typisch
Irrsinn. Denn hat sich das etwa gelohnt? "Unter dem Strich und gesamtwirtschaftlich
betrachtet, muss diese Frage mit einem klaren Nein beantwortet werden.
Von Anfang bis Ende haben der unselige Kolonialismus und die Weltmacht-Ambitionen
alle beteiligten 'Mächte' insgesamt viel mehr gekostet als sie letzten
Endes einbringen konnten." (256) Da stellen Staaten einmal so richtig schön
ihre eigene gewaltsame Natur und die des kapitalistischen Geschäfts
vor Augen, dem sie dienen; da beweisen sie praktisch, dass ihnen ihr Recht
über alles geht, ihnen der Erfolg, den sie für sich und gegen
andere wollen, so wichtig ist, dass sie haufenweise den Reichtum vernichten,
um den es ihnen ausschließlich geht - und ihr Kritiker entnimmt ihrem
Wirken das Zeugnis, dass diese Produktionsweise deswegen ein Irrsinn ist,
weil sie sich per Saldo nicht lohnt! Nichts als die Mehrung von Reichtum
im Sinn, und dann nicht einmal gescheit rechnen können - das ist mal
ein kritischer Einwand! Ein viel besserer ideeller Gesamtkapitalist, als
es die imperialistischen Staaten sind, teilt uns also mit, dass die mit
ihren Kriegen ein einziges Verlustgeschäft betreiben, und damit wissen
wir natürlich auch und sofort wieder, was von denen zu halten ist,
die Kriege dennoch erst planen und dann führen: "Tatsächlich
ist die koloniale Expansion ebenso wie die maritime Rüstungspolitik
nur als Ausdruck, Fortsetzung und Verlängerung derselben verselbständigten
und wahnhaften Struktur zu begreifen, die schon die 'abstrakte Arbeit'
als solche und ihre Zuchtanstalten im Sinne eines Bentham hervorgebracht
hatte." (256) Tatsächlich geht die Reihenfolge, in der hier zum wiederholten
Mal nichts begriffen wird, genau andersherum. Erst hat sich unser Kritiker
dazu entschlossen, über die beständige Abstraktion von allen
realen Zwecken in die Welt das bestimmende Prinzip hineinzusehen, dass
sie eine einzige Zwecklosigkeit, daher ohne Sinn und deswegen "Wahnsinn"
ist; und dann begegnet ihm der auf Schritt und Tritt: Kaum sieht man ihn
wo hinein, hat man dort auch schon wieder seinen nächsten "Ausdruck",
und so geht's dann dahin. Nicht immer ganz bruch- und reibungslos allerdings.
Von einigen nachvollziehbaren Gründen für Staaten, Krieg zu führen
oder Länder zu erobern, hat auch Kurz läuten hören, und
dass es beim Ausbuddeln von Bodenschätzen in Afrika und anderswo überhaupt
nicht um die gegangen wäre, will auch er nicht behaupten, wo das sogar
in allen ganz und gar unkritischen Geschichtsbüchern steht. Also führt
er "teilrationale Aspekte im Sinne der vorausgesetzten irrationalen Produktionsweise"
ein und konzediert auch für ihn durchaus nachvollziehbare Motive,
"sich trotz des allgemeinen Missverhältnisses von Kosten und Nutzen
imperialistisch zu verhalten", etwa "Zugriffsmöglichkeiten auf strategische
Rohstoffreserven" (261). Doch kaum hat er mit der Gelegenheit Bekanntschaft
geschlossen, dank seines kleinen Zugeständnisses an die Existenz eines
wirklichen politischen Zwecks endlich ein Bisschen der kapitalistischen
Wirklichkeit kritisieren zu können, entschließt er sich, das
doch besser sein zu lassen und lieber bei der Kapitalismuskritik zu bleiben,
auf die er sich versteht. Die ist ja auch viel gründlicher: "Die Fortsetzung
der Konkurrenz in den politisch-militärischen Formen (...) musste
ganz unabhängig von irgendeinem positiven Nutzen als quasi zweckloser
(oder eben auch auf dieser Ebene selbstzweckhafter) Kampf um 'Interessensphären'
ausgetragen werden." (265)
So wissen alle guten Menschen der kapitalistischen Welt, dass sie nicht
nur moralisch richtig liegen, wenn sie zum Krieg "Wahnsinn!" sagen. Mit
ihrer Weigerung, sich einen Begriff der Sache zu machen, haben sie selbige
schon haargenau erfasst.
"Die Biologisierung der Weltgesellschaft"
fassen wir kürzer als Kurz. Dass von Darwin die rassistische Blutspur
losgeht und beim Antisemiten Marx noch längst nicht aufhört,
war uns auch schon bekannt. Die Widerlegung seines Theorems, dass das kapitalistische
Schwein das Bewusstsein bestimmt und das Böse der Wertform ins Xenophobische
entarten muss, liefert der bekennende Anti-Rassist höchstpersönlich,
indem er es aufstellt. Außerdem kommt das Kapitel Auschwitz ja gleich.
"Die Geschichte der Zweiten industriellen Revolution": Wie man geistig
von Verdun mit dem Auto direkt ins KZ kommt
Man hat bei diesem Kritiker äußerst wenig Chancen, seine Auslassungen
unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob denn überhaupt stimmt, was
er sagt. Das liegt daran, dass Kurz beim Reden über die diversen Gegenstände
gar nicht über sie urteilt, sondern an ihnen sein gegenstandsloses
Prinzip, den Kapitalismus als diese von ihm gedachte subjektlos-irre Selbstzweckhaftigkeit,
zur Sprache bringt, die den Gang der Geschichte determiniert und die Menschheit
in den Abgrund reißt. Die Technik, aus ein und demselben abstrakten
und moralischen Sinnprinzip eine Weltgeschichte zu drechseln, ist die der
Assoziation. Die unterscheidet sich bei unserem Autor allerdings beträchtlich
von der bekannten Übung, einen Gedanken mit einem Apropos, mit einer
Anknüpfung an eine zufällig gleichartige Äußerlichkeit
fortzuführen. Unser Theoretiker nämlich vergleicht an den verschiedensten
Sachen, die er anspricht, immer wieder das Gleiche. Er versinnbildlicht
am Material der Weltgeschichte seinen Sinn, indem er ihre markanten Stationen
erst gedanklich unter ihn subsumiert und sie dann so präsentiert,
dass sie ein einziges Bild des immergleichen Prinzips sind, das den herrschenden
moralischen Verfall namens Kapitalismus regiert. Diese Gedankenketten wollen
nichts erklären und tun das auch nicht, nicht einmal verkehrt. Sie
sind die Manier, in der ein weltanschaulicher Spinner auf ein sich
beim Leser einfindendes Kopfnicken beim Wiedererkennen ein und desselben
Abstraktums an den disparatesten Phänomenen spekuliert, die der Stoff
der Historie bereitstellt. Das Prinzip dieses Denkens findet man zum Beispiel
auch in den Deutungen des Weltgeschehens als Kette von Interventionen Außerirdischer
vor vor, die Gott heißen können, aber nicht müssen. Oder
in der Idee einer jüdisch-marxistischen Weltverschwörung. Oder
in der Entdeckung der Welt als Ausbund zum Himmel schreiender Ungerechtigkeit,
usw. Und unser Autor vollstreckt dieses Prinzip eben nur auf seine Weise:
Immer und überall und an allem und jedem das Urteil "verrückt"
loszuwerden - mehr hat er nicht zu sagen und mehr will er auch gar nicht
mitteilen. Denn mit dem geistigen Abnicken des ewig sich wiederholenden
Zusammenfallens von abstraktem Prinzip und seiner historisch-empirischen
Erscheinung kann und soll der Leser sich ein ums andere Mal verplausibilisieren,
dass des Autors Assoziation vom Prinzip zum selben Prinzip exakt die Notwendigkeit
trifft und nachzeichnet, der die Geschichte unterliegt: Die Emanationen
des Ewiggleichen, die da aufeinander folgen, zeigen ja, dass die Historie
anders gar nicht verlaufen "konnte" und genau so "musste", wie des Dichters
Feder es arrangiert hat. Der Erste Weltkrieg: "Die negative Gleichheit
vor dem Geld, die bis dahin nur unzureichend durchgesetzt war, konnte nicht
anders als in Form einer negativen Gleichheit des Todes und der Verstümmelung
in den 'Blutmühlen' vorbereitet werden. Diese Urform der aufsteigenden
Benthamschen Demokratie des 20. Jahrhunderts (...)" (350). Henry Ford,
sein Auto und das Fließband: "Aber der in Blutmühlen eingeschmolzene
massendemokratische Typus musste auch ökonomisch in eine neue Stufe
der kapitalistischen Systementwicklung hereingeholt werden. Dafür
bedurfte es des Übergangs zu bisher nicht dagewesenen Formen der Massenproduktion
und des Massenkonsums." (365) Und als Summe von beidem das 'Manifest des
Futurismus': "Die ungeheure Aggressivität, die aus diesem Stakkato
wirrer Ideenbrocken und cholerischer Aufwallung entgegenschlägt, zeigt
den Geisteszustand des aufkommenden Vollkapitalismus an, in dem sich die
schon auf den Schlachtfeldern eingeübte masochistische Hingabe des
'männlichen' Ernst-Jünger-Subjekts an die Maschine mit einem
sadistischen Rausch der Geschwindigkeit verbindet, der auch auf den zivilen
Straßen buchstäblich über Leichen rollt." (412) Und so
zu.sw. Und s Selbstverständlich weiß unser Autor auch zum Thema
Auschwitz ganz genau, wie es dazu kommen konnte. Wie üblich ist auch
ein Konzentrationslager bei ihm ein Prinzip, das - "letztlich", versteht
sich - auf sich selbst in seiner nur unterschiedlichen Erscheinungsweise
"verweist", wie das in der modernen Kritik so heißt, wenn ein Schluss
prätendiert sein will: "Letztlich verweist das KZ im Mikro- wie im
Makro-Maßstab auf die zwanghafte Natur des Kapitalismus überhaupt,
dessen ganzes Fabrik- und Arbeitssystem nie etwas anderes war als die ins
Alltagsleben übersetzte Militärdespotie." (487) Also lassen wir
uns von den faschistischen Völkermördern wieder zurück zum
Autobauer verweisen - eine "fordistische Massendisziplinierung", die in
der deutschen "völkischen Erscheinungsform" erstens "zwangsläufig"
"zum Programm des Massenmordes werden" und das dann zweitens auch noch
"musste." Und von dem dann noch weiter und wieder dorthin zurück,
wo wir schon öfter waren und wo sich inzwischen auch Stalin mit seinen
"sowjetischen Staatsverbrechen" (460) eingefunden hat: "Durch die Projektion
auf die Juden sollte die negative Seite der 'abstrakten Arbeit' aus dem
fordistischen Arbeitsparadies verschwinden, ohne den Kapitalismus als solchen
überwinden zu müssen. Blieb es bei Ford und Stalin eine bloße
Projektion im Interesse system-funktionaler Ziele, so wurde diese Projektion
bei Hitler zu einem Selbstzweck sui generis." (491)
Es macht den Reiz dieses Denkens aus, von seiner eigenen Projektion
nie mehr loskommen zu müssen. In den diversen Projekten der Weltgeschichte
findet man sie wieder, aber genau so gut auch in den Projizierungen der
Akteure derselben, auf die man von deren Machenschaften einfach zurückschließt,
so dass sie sich mit allem, was sie je gedacht, gewollt und getan haben,
einfach herauskürzen und man wieder bei sich und seinem Einfall angelangt
ist. En passant glückt es einem dann sogar noch, eine Steigerungsform
für das Selbst vom Selbstzweck zu erfinden, und schon wieder hat ein
ganz Anderer einmal mehr das Rad der Geschichte genau so um sich selbst
herum weitergedreht, wie alle anderen zuvor. Ein abstrakter Gedanke, unter
den Alles passt und den man überall sieht - wunderbar. Weltanschauung
sui generis und at its best, zwar nicht modern, aber eben sauradikalkritisch.
"Das System der totalitären Weltmarkt-Demokratien": Wie die Menschen
im Kapitalismus immer irrer werden
Und was machen die "atomisierten Subjekte" im Kapitalismus sonst noch,
außer beim Arbeiten immer nur vor sich hin, "sinnvergessen", allein
der "Selbstverwertungsmaschine" überantwortet, ohne "Geborgenheit",
innere wie äußere? Richtig, da war noch was außerhalb
der von Bentham erfundenen Blut-, Tret- und sonstigen Mühlen, mit
denen sie beschäftigt sind. Zu tun haben sie auch noch mit einem gleichfalls
wenig Freude verheißenden Ding: Ein Staat herrscht über sie
und zwiebelt sie, "panoptisch selbstregulativ", wie wir schon früh
erfahren durften. Doch so, wie der zeitgenössische Mutant des Monsters
von Hobbes sich zwei Kapitel zuvor bei seinem Wirken nach Außen eingeführt
hat, ahnt man schon, dass er auch beim Einsatz seiner politischen Macht
im Inneren seines Hoheitsgebiets nicht so ganz Herr seiner selbst ist.
Zwar ist es schon eine politische Macht, die sich da auch für unseren
Kritiker flächendeckend und bis in den letzten Winkel des Alltagslebens
hinein über die Subjekte erstreckt. Aber es ist - das wissen wir im
Grunde bereits seit Hobbes - keinesfalls die, mit der die Menschen alltäglich
in Form der Gesetze Bekanntschaft schließen, die ihnen vorschreiben,
was sie zu tun und zu lassen haben. Was bei dieser Macht den Zweck des
Einsatzes ihrer Rechtsgewalt betrifft, verhält es sich damit auch
keineswegs so, dass sie mit ihrer Unterwerfung der Subjekte unter ihre
rechtlichen Setzungen die Interessen und Gegensätze überhaupt
erst schafft, mit und in denen die dann als Eigentümer in die Konkurrenz
um den Erwerb von Geld einsteigen. Nein, das bürgerliche Herrschaftswesen
ist als das glatte Gegenteil von all dem zu begreifen, was man bei einigermaßen
unvoreingenommener Betrachtung von ihm zu wissen vermeint. Die in ihm ausgeübte
Herrschaft ist erstens zweck- und grundlos, daher ihrem Begriff nach "totalitär".
Und als dieses Prinzip, Herrschaft um ihrer selbst willen zu sein, verrät
sie dann zweitens, worin sie ihren guten Grund gleichwohl hat. Es ist der
bekannte, für alles Schlechte verantwortliche: "In diesem Sinne ist
der politische Totalitarismus zu übersetzen oder zu dechiffrieren
als die spezifische 'Verpuppungsform' eines viel allgemeineren, viel tiefer
greifenden sozialökonomischen Totalitarismus der historisch ihrer
Reife und Vollendung entgegengehenden kapitalistischen Produktionsweise
insgesamt. Die eigentlichen, tiefer liegenden Elemente dieses Totalitarismus
sind (...) zum einen in den ökonomischen Formbestimmungen von nunmehr
'totaler Kommerzialisierung', 'totaler Arbeit' etc., zum andern in den
sachlichen, stofflich-materiellen, bis zur Mikro-Ebene des Alltags reichenden
Ablagerungen dieser totalitären kapitalistischen Daseinsform (zu suchen)."
(527) Also suchen wir zusammen mit einem Psycho-Pathologen des Alltagslebens
den Totalitarismus einer Daseinsform an den Formen eines totalitaristischen
Daseins auf und dechiffrieren die Subjekte entsprechend als kleine zweibeinige
Automaten, die nichts sind und die nichts wollen, weil sie in allem, was
sie sind und wollen, als Exekutoren eines totalen Sachzwangs herumlaufen,
der immer totaler wird, Irre also, die für den Irrsinn der Welt stehen.
Daher stellt sich schnell heraus, was beim Autofahren Sache ist. Ein Hitler
erfindet den Volkswagen, und schon ist der Kritiker im Bilde: "Die Liebe
der Nazis zum Auto sagt viel über das Auto selbst." Und was verrät
das Objekt der Begierde uns über den Charakter seines Liebhabers im
Einzelnen? Dass der faschistische Terror in Chrom glitzert und vier Räder
hat, quasi, weil nämlich "in der totalen Automobilmachung gewissermaßen
das faschistische Element in allen fordistischen Gesellschaften, auch in
den Nachkriegs-Demokratien, seinen zentralen Ausdruck (fand)" (553). Dann
die Freizeit. Die hat ihre "Ursprünge in den Irrenhäusern des
18. Jahrhunderts" (565), hieß bei den Nazis dann Kraft durch Freude
und stellt neben dem Auto die zweite Säule der gesellschaftlichen
Herrschaft dar. Letztere hat man sich vorzustellen wie ein unsichtbarer
Virus, der sich auf der Festplatte des Unterbewusstseins der Subjekte einfrisst
und ihnen ihre Gedanken diktiert, kaum machen sie sich irgendeinen über
irgendetwas: "Es sind weniger spezifische Gegenstände des Denkens
und Empfindens, die diesen gesellschaftlich konditionierten Charakter des
Bewusstseins ausmachen, als vielmehr die allgemeine Form aller überhaupt
denkbaren Bewusstseins-Inhalte, die das Individuum botmäßig
machen. (...) der Griff nach dem Unbewussten enthüllt am deutlichsten
den totalitären Charakter des Kapitalismus - und macht diesen Totalitarismus
gleichzeitig unsichtbar, soweit der Zugriff gelingt." (571) Gut, dass wenigstens
einer dem ausgekommen ist und den Pawlowschen Hund, der in uns sein Unwesen
treibt und jedem Gedanken, bevor er gedacht wird, sein pro-kapitalistisches
Universalpräservativ überzieht, auf die Couch gelegt hat. Wüssten
wir doch sonst auch nicht, wie diese Herrschaft auch noch als Demokratie
vonstatten geht. Nämlich so, dass "hinter" den bekannten drei Gewalten
des Staates, über die uns der Autor eher nichts erzählt hat,
die uns dafür umso bekanntere "stumme 'vierte Gewalt' herrscht - die
strukturelle Gewalt des totalitären Marktsystems" (577). Die inszeniert
natürlich wie gewohnt eine "ökonomische Selbstzweck-Orgie" (593),
so dass man sich auch über das Waldsterben, das Ozonloch und den Wassermangel
auf der Welt nicht mehr zu wundern braucht.
Welcher elitäre Socken sich auch immer über die Unkultur
des Plebs, das Massenbewusstsein im Allgemeinen, den Massentourismus im
Besonderen und die Geistlosigkeit des zeitgenössischen Subjekts überhaupt
ausgelassen hat, das dem Götzen Mammon hinterherläuft - der Kritiker
teilt allen zusammen mit, wie sehr sie damit Recht haben und dass man sich
die Leute doch nur anzuschauen braucht, schon sieht man's. Wer sich schon
immer an seiner Einsicht gelabt hat, dass die Demokratie eher keine diskursive
Ermittlung einer vernünftigen Lebensplanung ist, obwohl die von Habermas
doch versprochen war - der Kritiker nickt milde und einsichtsvoll und fügt
hinzu, dass es einfach eine Überallmacht ist, die das richtige Leben
versaut. Wer schon immer ein ökologisches Bewusstsein hatte und den
kapitalistisch betriebenen Ruin von Mensch und Natur auf die Unmoral eines
verantwortungslosen Strebens nach Profit zurückführte - auch
der liegt genau richtig und erfährt, dass man zu Letzterem auch einfach
nur Selbstzweck sagen kann. Wer immer also und mit welcher verkehrten Begründung
auch immer zu irgendetwas seine konstruktiv-kritische staatsbürgerliche
Meinung hat und sich sicher ist, dass für so manchen beklagenswerten
Zustand im kapitalistischen Laden eine Pflichtverletzung an höherer
Stelle verantwortlich ist, wird von unserem Kritiker erst einmal bedingungslos
ins Recht gesetzt. Dann wird ihm zusätzlich zu verstehen gegeben,
wie man sich das Auseinanderfallen von Ideal und Realität modern-kritisch
als zum Himmel schreienden Irrsinn zu erklären hat, und damit kann
er sich dann den Schuldigen auch noch mit wunderschön komplizierten
Wortschöpfungen aus 'total' und 'Selbstzweck' immer wieder von neuem
aufbauen. Und wenn ihm das zu abstrakt wird, geht er einfach zum nächsten
Auto und schaut sich seinen Begriff an.
"Die Geschichte der dritten industriellen Revolution": Wie das Ende unaufhaltsam
naht
Vor kurzem hat der Chronist des Kapitalismus eine Entdeckung gemacht. Seinem
geschulten Auge wird "der Horizont einer neuen Systemkrise sichtbar", und
je länger er hinsieht, desto deutlicher wird ihm, was er da gesehen
hat: "Diese besteht, wie sich mit immer größerer Deutlichkeit
zeigt, in einer gewissermaßen finalen Mobilisierung des kapitalistischen
Selbstwiderspruchs" (641). Die letzten Zuckungen dieses Systems also endlich,
quasi, und einigermaßen gespannt fragen wir uns, was uns entgangen
ist, der Seher aber gesehen hat. Die "Massenarbeitslosigkeit" ist ihm als
Erstes aufgefallen. Uns zwar auch schon seit längerem, ihm dafür
aber anders. Dass es sie gibt, ist für ihn schon wieder ein Beweis,
dafür nämlich, dass das Subjekt, das dies bislang konnte, sie
nicht mehr verhindern kann. Der Staat, der mit seinen Eingriffen immer
in die Bresche gesprungen ist und dafür gesorgt hat, dass die im und
für den Kapitalismus Unbrauchbaren kein so arges Problem sind, der
ist es, der jetzt seine Aufgaben nicht mehr wahrnimmt: "Der Staat dankt
ab" (642) - und deswegen treten die Arbeitslosen als "Gesellschaftskatastrophe
der globalen 'strukturellen Massenarbeitslosigkeit' in Erscheinung." (650)
Und unser freudianischer Geldtrieb-Experte kennt die Schuldigen für
diese Katastrophe nur zu gut: Der Staat hat eingesehen, dass er gegen
das Grundgesetz seiner Ökonomie - "das ökonomische 'Es' beharrt
gegen jede rationale Einsicht auf seinem dunklen Trieb, die Welt in eine
gigantische Ansammlung von Waren zu verwandeln und gleichzeitig die Massen
auf das Existenzminimum herunterzudrücken; ihm diese logische Unmöglichkeit
ausreden zu wollen, ist ungefähr so Erfolg versprechend wie der Versuch,
ein fleischfressendes Raubtier auf Vegetarier umzuschulen" (656) - nichts
mehr ausrichten kann, und zieht sich daher zurück. "Der letzte Weg"
(670), der ihm noch bleibt, ist, zu deregulieren und zu privatisieren,
was und wo immer nur möglich. Er stiehlt sich also aus seiner sozialen
Verantwortung heraus, und die Folgen eines Prozesses, "in dem ein buchstäblich
irregewordener Kapitalismus seine sämtlichen Sicherungen ausbaut und
seine Rahmenbedingungen niederreißt" (663), arrangieren sich ganz
zwanglos zum Bild vom Untergang des Systems: "Billiglohnverhältnisse",
für die Kapitalisten und Sozialpolitiker im Verein mit den Gewerkschaften
sorgen; ein von oben dekretiertes "Armutsniveau", "neue Massenarmut", "allgemeine
Dehumanisierung des kapitalistischen Medizin- und Gesundheitswesens", kurz:
alle Phänomene, mit denen die politischen und ökonomischen Manager
des modernen Kapitalismus eindrucksvoll ihre Absichten unter Beweis stellen,
wie sie ihren Standort herzurichten gedenken, dokumentieren für einen
Oswald Spengler der Postmoderne das Gegenteil. Die Ohnmacht, die da im
Standort regiert. Die zum Himmel schreiende Unvernunft. Den Irrsinn, der
da waltet - "dass das alles auch ganz anders geregelt werden könnte,
kommt niemandem mehr in den Sinn" (712) -, aber nicht mehr lange, weil
der politische Wärter des Irrenhauses sich ja verabschiedet hat. Je
mehr die Armut vorankommt in ihrem Dienst an der Vermehrung des Reichtums,
desto klarer wird ihm, der das alles ja viel vernünftiger regeln könnte,
was er schon immer wusste - der "Verfall der kapitalistischen 'Wertschöpfung'"
(683) ist da. Einfach so, so einfach.
Auch an der "Selbstzweckmaschine" namens Geld ist für Kurz das
Ende förmlich zu greifen. "Kasinokapitalismus" heißt sein Stichwort
für die finale Krise der kapitalistischen Akkumulation im engeren
Sinn, und auch da ruft er die Phänomene dazu auf, das Gegenteil dessen
zu bezeugen, wovon sie zeugen. Massenarbeitslosigkeit und Massenelend zeigen
also nicht, was es heißt, wenn rentable Arbeit verrichtet wird; sie
zeigen, dass die gar nicht mehr verrichtet werden kann. Die Akkumulation
fiktiven Kapitals an den Börsen ist nicht, was sie ist; sie ist die
Fiktion einer Akkumulation, welche dort, wo sie stattfinden sollte, andernsorts
nicht mehr stattfindet. Eine "finanzkapitalistische 'Geisterakkumulation'"
(729) also, "simulierter monetärer Reichtum" (742), Geld in der Geldform
"Blase" (738) und Kredit in der Eigenschaft "Nichts" (742). Und schon ist
das Konstrukt fertig, mit dem sich der Kapitalismus erfolgreich als hoffnungsloser
Schwindel durchschauen lässt, seine eigene Noch-Existenz vorzutäuschen:
Die Arbeitslosen, die es gibt, beweisen, dass es den Boom an den Börsen,
den es fraglos auch gibt, deswegen geben muss, damit keiner merkt, dass
die Arbeitslosen in Wahrheit ja den kapitalistischen Nicht-mehr-akkumulieren-Können-Boom
beweisen - die "strukturelle Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut ist
ein Indikator dafür, in welch phantastischem Ausmaß das 'fiktive
Kapital' aufgeblasen wird, um einen ungebremst weitergehenden Akkumulationsprozess
simulieren zu können." (731)
Schließlich und endlich bringt dann das "Ende der Nationalökonomie"
(748) das Fass zum Überlaufen. Das geschieht im Wesentlichen durch
das schon eingangs besprochene Verfahren, mit dem Kurz hier einfach alle
Ideologien, die jemals zum Stichwort 'Gobalisierung' erfunden wurden
, für bare Münze nimmt und sie zum Zeugen dafür verwendet,
was er in der Wirklichkeit als wirklich sieht: "Das ökonomische Zentrum
des modernen Konstrukts 'Nation' wird vom Krisenkapitalismus weggespült."
(750) Zwar will auch Kurz nicht gleich so weit gehen, die Nationalstaaten
komplett von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Aber "ausgehöhlt"
stellen sie sich ihm eben schon ziemlich dar, und da sieht er an ihnen
dann doch so manches, was für ihn unzweideutig auf ein und denselben
Orkus hinausläuft. So haben manche Verlierer in der weltweiten Konkurrenz
ums Geld nur eine bedeutungslose eigene Währung, manche Sieger wollen
ihrer Währung noch mehr Bedeutung verleihen und schaffen sich dazu
einen Euro - für Kurz ist das kein Problem, weil beides dasselbe,
nämlich "eine Auflösungserscheinung der Nationalökonomie".
(754) Und so zerfällt die Welt, je mehr man hinschaut. Was macht der
Standort? Weg ist er, "transnational" (755) geworden. Der Staat, gibt's
den wenigstens nach Außen noch? Kaum mehr zu sehen: "Die Politik
schlägt auch als so genannte Außenpolitik keine hohen Wellen
mehr" (755). Ja, heißt das am Ende, dass der Kapitalismus auch noch
den Imperialismus erledigt hat? Genau, das heißt Globalisierung:
"Das bedeutet auch das Ende des alten nationalen Imperialismus (...) In
der entkoppelten Sphäre der 'Nicht-Orte' wird territoriale Herrschaft
sinnlos, in welcher Form auch immer." (760) Dass dann, wenn Leviathan sich
verdünnisiert, es sofort wieder losgeht mit dem Alle gegen Alle, dass
dann Autofahrer, Nazis, Todesschwadronen, Sloterdijks und andere Unholde
privat wieder frisch und fröhlich den Faden weiterspinnen, den die
Benthams geknüpft haben, versteht sich ja von selbst, und so ist alles
prächtig arrangiert für die "endemische Zerstörung der menschlichen
Gesellschaft überhaupt" (780). Brrrrr, alles putt.
So also geht das Ende, wenn man die Zeichen richtig liest, die an der
Wand stehen. Das wiederum geht so, dass man alle Formen, in denen der moderne
Standort-Kapitalismus seine Fortschritte macht, stur als Beweis des Rückschritts
nimmt, den der Kapitalismus machen muss, weil er nicht mehr so bleiben
kann, wie er einmal war. Und schon entpuppt sich einem der Gang der Dinge
als ein einziges hoffnungsloses Notprogramm zur Vermeidung des Unvermeidlichen,
wobei man sich überhaupt nicht davon irritieren zu lassen braucht,
dass von diesen Dingen und ihrem Gang einfach nichts zu der Deutung passt,
mit der man beides begleitet. Bei allen Fortschritten, die die kapitalistische
Nutzbarmachung rentabler Arbeit macht, deutet man auf die, die dabei nicht
benutzt werden, und hat seinen Beweis dafür, dass das Ausbeuten einfach
nicht mehr klappen kann, weil sich das Arbeiten ja offensichtlich nicht
mehr rentiert. Denselben Beweis liefern einem Aktienkurse, weil die ja
nicht so hoch wären, steckte das viele Geld in der Ausbeutung und
nicht in Aktien. Und wenn der Staat, der mit seinen Gesetzen auch ein einziges
Zeugnis von Ohnmacht ist, mitten im Prozess seiner laufenden Selbstauflösung
doch noch einen Krieg führt, so macht auch das nichts. Man hat perfekt
kontrafaktisch zu denken gelernt, und nennt das Ganze sagt zu dem dann
einfach das 'letztes Gefecht'.
"Epilog": Wie es trotzdem weitergehen kann
Wie andere im Fall des Kommunismus postum, so hat auch R. Kurz dem Kapitalismus
in einem "Schwarzbuch" den Totenschein ausgestellt, den der mit seiner
Gründung vor 300 Jahren vorformuliert hat . Jetzt wartet er.
Er könnte sich zwar vorstellen, dass man alle vorhandenen Ressourcen
so nutzen könnte, "dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben
frei von Armut und Hunger gewährleistet wird." (782) Aber wer soll
das in die Hand nehmen, den Kapitalismus stillzulegen, bevor er platzt?
Er könnte sich zwar vorstellen, dass das Räte tun könnten,
es vielleicht auch eine gewisse "Linke im weitesten Sinne" sein könnte,
"die allein dafür in Frage" kommen könnte (788). Aber die hat
ja ganz andere Sorgen. Die ist ja "unumkehrbar zum integralen Bestandteil
der kapitalistischen Krisenverwaltung, der sozialen Repression und Barbarisierung
der Verhältnisse geworden" (788). Und den Bock zum Gärtner hat
man ja schon einmal mit Marx gemacht. Zwar wäre der direkteste und
beste Weg schon ein Umsturz, eine "Massenbewegung", die Staat und kapitalistische
Produzenten "schlicht entmachtet" (791). Aber wer und wo soll die sein?
Da ist hinten und vorne nichts in Sicht von der doch so bitter nötigen
"radikalen Gegenbewegung". Da darf man sich also nicht täuschen und
muss der ungeschminkten Wahrheit ins Auge sehen: Die schönste "Zukunftsmusik"
mit ihren feinen "emanzipatorischen" Träumereien hat "wirklich ausgespielt"
(791). Was tun wir da? Geht denn wirklich gar nichts mehr? Doch, es geht
schon noch was. Wenn Kritiker des kapitalistischen Ladens - derzeit - schon
keine Resonanz finden: Dann machen wir eben ein positives Programm daraus,
dass sonst nichts läuft! Wenn schon kein Subjekt da ist, das einem
die nötige Revolution macht, so ist man doch wenigstens selbst noch
eines, ein Subjekt. Wenn man da mit der revolutionären Kritik bei
sich beginnt, ist immerhin "eine Kultur der Verweigerung möglich"
(792), und indem wir die pflegen, beweisen wir uns, dass das Kritisieren
nach wie vor Sinn macht. Kapitalismus? - Nein danke! sagen wir einfach,
Geldwirtschaft? - Ohne uns! Wir sind und bleiben konsequent kritisch und
links, lassen die Irren mit sich allein - und sie auf dem Wegesomit wissen,
dass wir ihrem Untergang wenigstens erhobenen Hauptes beiwohnen können.
Demonstrativ verweigern wir "jede Mitverantwortung für 'Marktwirtschaft
und Demokratie'". Die gründliche Absage, die wir dem Kapitalismus
und all den Subjekten, die sich in ihm tummeln, schon erteilt haben, machen
wir einfach immer wieder und immer wieder. Das macht zuerst jeder für
sich, und dann schauen wir, dass wir eine kleine Gemeinde von unermüdlich
rackernden Absagern werden. Denn "selbst wenn es nur wenige sind, die im
Zerfallsprozess des Kapitalismus eine neue innere Distanz gewinnen können"
(792): So, als beleidigte Leberwurst, die auf innere Emigration geht und
sich literarisch Luft macht, als kritische Monade in linken Kreisen und
bei der 'Süddeutschen Zeitung' vorbeiweht und mit der Weisheit aufwartet,
dass das abstrakte Denken der kritischen Kritik des Herrn R. Kurz die einzige
Emanzipation ist, die noch geht: "Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst
gar nichts mehr frei ist" (792) - so lässt sich's gerade noch aushalten
im falschen Leben .
Dieser Gestus also ist es, der gut ankommt hierzulande. Die Pose der
Kritik oder die Kritik als Pose; die Attitüde des radikalen 'Anti-';
der Kitzel des methodischen Dagegen-Seins ohne Anspruch und unter explizitem
Verzicht auf theoretische Kritik wie praktische Konsequenzen, die aus der
zu ziehen wären: Das ist das intellektuelle Bedürfnis, das der
Schriftsteller bei nicht wenigen weckt und befriedigt. Kein eigenes Urteil
über die kapitalistische Welt revidieren und auch sonst nichts in
ihr ändern zu müssen, und ihr doch die denkbar gründlichste
Absage machen zu können - das ist der Genuss, für den man sich
durch 800 Seiten pflügen darf. Offenbar bedient der Dichter die geistige
Elite perfekt mit dem, wonach sie verlangt, nämlich mit einer Gelegenheit,
sich lektürehalber auch außerhalb von Studium und höherer
Laufbahn geistig über den Gang der Welt in jeder Hinsicht erhaben
zu wissen und sich in der vorgestellten Überlegenheit über alles
und jeden zu ergehen. Mit einer einzigen Formel die Welt nicht nur komplett
und im Unterschied zu allen anderen Idioten der kapitalistischen Tretmühle
zu durchschauen, sondern sie auch noch als irrsinnigen Selbstlauf ein für
allemal abzuhaken - das bringt's enorm, fürs Selbstbewusstsein. Und
unterhaltsam ist es obendrein, wenn an Dichtern und Denkern, Fabrikanten
und Staaten, an den Hungernden wie an den Reichen der letzten 300 Jahre
Zeitgeschichte immer wieder ein und dieselbe leicht fassliche Vorstellungsfigur
vom kapitalistischen Sinn als einer weltgeistigen Nullstelle aufscheint.
Wenn sich einem die Geschichte gleichsam als bunter Bilderbogen darbietet
und man einfach nur zuzusehen braucht, wie sich die unterschiedlichsten
Akteure immer wieder und immer mehr in demselben Verhängnis verrennen,
von dem sie nichts wissen, man selber aber schon von Anfang an alles. Die
Geschichte als Comic-Strip, der Kapitalismus als Parabel vom Lemming: So
geht moderner Anti-Kapitalismus, w. Wundert uns nicht mehr, dass er so
gut ankommterfolgreich ist.
PS.
Nun bereichert der Autor also auch noch regelmäßig das 'SZ-Magazin'
mit seinen Einsichten, zur m RezeptTheorie vom Meisterkoch gibt's vom Meisterkritiker
das Rezept Geheimnis dfür die er bbeste n politische Kritikn Kolumne.
Der Trick: Das staatsbürgerliche Genörgel der öffentlichen
Meinung mit dem Senf des noch viel verantwortlicheren ideellen Gesamtstaatsbürgers
bestreichen und so lange mit Heißluft überziehen, bis die Ohnmacht
der Machthaber aus dem Rohr tropft! Dann nämlich treten erst die wahren
Versäumnisse ans Licht, die die Regenten des Gemeinwesens sich zuschulden
kommen lassen. Über "Reformstau", "mangelnde Gestaltungskraft" und
andere untrügliche Indizien, dass da oben keiner ordentlich hinlangt,
klagen ja viele. Aber nur einer weiß, wovon das zeugt: Von einer
politischen Herrschaft, die ihren Namen auch verdient, kann hierzulande
einfach nicht die Rede sein. Das sieht man allein schon an denen, die fürs
Regieren verantwortlich sind. Müntefering zum Beispiel. Der spricht
generell nur "Nullsprache", und wenn er den Mund aufmacht, dokumentiert
er den "gemeinsamen Nullinhalt aller Parteien". So ist das mit der Macht
in Deutschland. Es gibt sie einfach nicht. Und was es von ihr gibt, ist
"nicht nennenswert": "An die Macht, die schon keine mehr ist, kommt man
am besten mit einer Politik, die schon keine mehr ist. Mir wird dabei ganz
anders, aber leider nicht besser. Warum überhaupt noch die Inszenierung
von politischen Wahlen, wenn die Regierung nicht nennenswert regieren und
die Opposition nicht nennenswert opponieren kann?". Sicher, irgendwie Politik
gemacht wird ja schon. Von Schily zum Beispiel. Der ist sogar "Hardliner
einer restriktiven deutschnationalen Asyl- und Ausländerpolitik."
Aber kaum hat Politik mal einen Inhalt, ist der garantiert der falsche.
Muss denn Ausländerpolitik unbedingt deutschnational sein? Kann man
das überhaupt noch deutschnationale Politik nennen, wenn "uns" - ja:
uns allen! - "Amnesty International schwere Menschenrechtsverletzungen
vorwirft"? Die Neger schaffen bei sich daheim die Apartheid ab - und wir
hier? Unser Gesetzgeber ist schon wieder eine einzige Null. Der verpasst
wirklich jede Gelegenheit, das Ansehen Deutschlands in der Welt zu mehren,
renoviert pausenlos sein Ausländerrecht, aber: "Der endgültige
Bruch mit dem Blutsrecht wurde vertagt." Das ist typisch. Tut einfach nichts,
die Politik, und schon fließt wieder Blut auf deutschen Straßen.
Dann Möllemann. Typischer Nullinhalt wieder, aber diesmal Riesennullnummer
mit dem "Inhalt Möllemann", eindeutig null Politik, nur "wirtschaftsliberale
Marktfrömmigkeit", was zeigt, wer im Land die Macht übernommen
hat: Die "Marktmenschheit" wird "direkt von der Börse reguliert".
Über seinen Erfolg haben sich manche gewundert. Wachtmeister Kurz
hat ihn schon immer genau kommen sehen. Null Politik geht umso besser,
je größer die politischen Nullen sind, die sie nicht betreiben.
Die anderen jammern alle nur immer über das "Fehlen politischer Inhalte".
Einer aber weiß, dass sie unwiederbringlich dahin sind. Er hat sie
nämlich höchstpersönlich in Luft aufgelöst: "Die Inhalte
dieser Gesellschaft sind verbraucht. Markt oder Staat, Jacke oder Hose,
Pest oder Cholera - nichts Neues unter der Sonne. Deswegen gibt es auch
keinen Unterschied zwischen Politik und Popkultur mehr. (...) Wenn alle
Inhalte sowieso gleich und deshalb überflüssig sind, erscheint
offensiv verfochtene Inhaltslosigkeit schon wieder originell." Es scheint
auch keinen Unterschied mehr zu geben zwischen einem politischen Kommentar
der Unterhaltungsindustrie und offenem Blödsinn. Man muss letzteren
ihn nur offensiv genug verfechten. Dann ist er schon wieder so originell,
dass er so gut unterhält wie Witzigmanns Geheimnis der besten Bockwurst.