2. TEIL: ZUR THEORIE, DEM SPIEL MIT DER NEGATION

(Anmerkung: Die chronologische Trennung zwischen der I.L. und der S.I. wird nun im folgenden Teil aus Darstellungsgründen aufgegeben. Da - wie oben gesagt wurde - die Theorie der SituationistInnen bei der Lettristischen Internationale schon angelegt war, ohne genau ausformuliert zu sein, werden die folgenden historischen Ungenauigkeiten nicht auf Kosten der Theorieaneignung gehen.

Um einen raschen Überblick der wichtigsten Kategorien der S.I. zu gewährleisten, sind wesentliche Begriffe der situationistischen Theorie fett gedruckt.)

Die Situationisten und Situationistinnen und ebenso ihre Vorläufer, die LettristInnen, waren SpielerInnen. Sie pokerten und starteten eine Wette, die nicht geringer war, als, um es mit Marx zu sagen, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Sie verloren die Wette allerdings, auch wenn es bei den Mai-Aufständen in Paris 68 kurz so aussah, als würde eine neue Epoche beginnen. Doch was könnte uns heute noch an diesen VerliererInnen der Geschichte für die revolutionäre Theoriebildung interessieren? Mich fasziniert vor allem ihr bis zur äußersten Konsequenz durchgeführter "Stil der Negation", den ich als Anknüpfungspunkt für eine der heutigen Zeit angemessene revolutionäre Theoriebildung und Praxis sehe.

"Sie (die I.L., Anm.) wollten die erste Revolution in die Wege leiten, die bewußt nicht aus einer Kritik am Leiden an der herrschenden Gesellschaftsordnung hergeleitet wird, sondern aus einer "totalen Kritik ihres Glücksbegriffes", einer in Taten manifestierten Kritik, einer neuen Praxis des Alltagslebens." (Greil Marcus)

DIE METHODEN DER I.L. UND DER S.I.

Die LettristInnen wollten spielerisch und experimentell die Gewohnheiten in einer ständigen Veränderung halten, ein launisches Leben in der Stadt führen und die verachteten Neigungen der Menschen entwickeln, um mit ihnen die Konfrontation zu organisieren.

Sie praktizierten eine Methode, die sie dérive nannten, ein zielloses und forschendes Umherschweifen in beweglichen Szenarien.

Dérive ist experimentelles Vorgehen in einer Forschung, gleichermaßen forciert und beschleunigt in der Bewegung, wie systematisch und ziellos in seiner Orientierung. In den deutschen Übersetzungen steht für das dérive der Begriff "Umherschweifen".

Debord hielt den Begriff in der Waage zwischen Hingabe an eine Szenerie, indem man sich ohne festen Kurs dem Spiel der Umgebung aussetzt, und der bewußten Entwicklung eines Verhaltens, das sich der Außenwelt zugänglich macht; ein Verhalten, das den Raum findet, erkennt, sich schnell entscheidet und abwendet, um zu neuen Räumen zu gelangen. Es ist ein dynamisches, in Gegensätzen operierendes, Zeit- Raumkontinuum. "Das Konzept des Umherschweifens ist untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen psychogeographischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spielverhaltens, was es in jeder Hinsicht den klassischen Begriffen der Reise und des Spazierganges entgegenstellt." (S.I. Nr. 2) Das dérive ist also ein mit der Suche nach anziehenden und abstoßenden Zeichen verbundenes Umherschweifen z.B. durch die Straßen der Stadt, also z.B. sich den Versprechungen der Stadt hinzugeben, um dann herauszufinden, daß es sie nicht gibt, und es ihren Zeichen gestattet, seine Schritte umzulenken, um diese Zeichen anschließend selbst wieder umzulenken und sie zu zwingen auf Wege hinzuweisen, die nie zuvor existiert haben. Das dérive ist als Kritik am Urbanismus entstanden und umgekehrt wird der Urbanismus durch das dérive systematisch kritisierbar. Die Psychogeographie ist dabei "die Erforschung der genauen Gesetze und exakten Wirkungen des geographischen Milieus, das bewußt eingerichtet oder nicht, direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt." (Debord, Rapport)

Eine weitere Methode war das détournement. Das détournement bedeutet Zweckentfremdung, Entwendung, Umleitung, Verführung, Mißbrauch, Abweichung, Wiedereinsetzung. Es soll verleiten, verderben, verführen, ästhetische Artefakte aus ihren Zusammenhängen entfernen und sie in neue selbstentworfene Zusammenhänge umleiten. "Entwendung" oder "Zweckentfremdung" sind die Übersetzung in den auf deutsch erschienenen Texten der SituationistInnen. Sie werden im folgenden synonym behandelt. "Es ist eine neue Art sozialer Sprache; eine Kommunikation, die die Kritik ihrer selbst enthält; eine Technik, die nicht mystifizieren kann, da sie schon von der Form her Entmystifizierung ist." (Greil Marcus)

Alle kulturellen Produkte sind Gemeingut (daher hatten ihre Zeitschriften ein Anti-Copyright), eine Trennung zwischen Autor und Leser existiert nicht und Quellen werden keine angegeben, denn alle Ideen schweben frei im Raum, werden durch die Geschichte hochgespült oder versinken.

Die Entwendung (détournement) ist aber auch eine peinlich genaue Recherche aus Geschichte und Soziologie, bewaffnet mit den Freiheiten der Poesie.

Asger Jorn, der den künstlerischen Flügel der S.I. repräsentierte, kennzeichnet die Zerstörung vorgegebener Werte als eine Grundbedingung der schöpferischen Fähigkeiten und legte damit nahe, der Zweckentfremdung in der gesamten Geschichte der Kunst nachzugehen. Debord stellt die Entwendung weitergehender in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang:

"Die zwei grundlegenden Gesetze der Entwendung sind die bis zum völligen Verschwinden gehende Bedeutungsminderung eines jeden autonomen entwendeten Elements und der gleichzeitige Aufbau einer anderen bedeutungsvollen Gesamtheit, die jedem Element seine neue Tragweite verleiht." (Debord)

Das treibende Moment der Zweckentfremdung wird als eine systematische Entwertung gekennzeichnet, die darauf fußt, daß an kulturellen Gütern nichts Erhaltenswertes zu finden sei, daß die in der Gesellschaft selbst wirkende Tendenz der Auflösung, diese bis zur Lächerlichkeit gehende Verschlechterung, zu forcieren sei, und daß die künstlerischen, theoretischen und praktischen Techniken und Werke hierbei nur eine Anwendung erfahren, niemals einen Wert.

"Im weiten Begriffsinn bedeutet 'entwenden' etwas global ins Spiel bringen. Die Entwendung (oder radikale Umfunktionierung) ist die Geste, mit der sich die spielerische Einheit der Lebewesen und der Dinge bemächtigt, die in ihrer Ordnung hierarchisierter Teilbereiche erstarrt sind" (Vaneigem, Handbuch)

Die Entwendung ist eine Strategie der Subversion. Die gesellschaftlichen Trennungen machen die Entwendung zur effektiven Waffe im Dienst der Totalität, die der aufständischen Praxis als angemessenste Form einer revolutionären Geste dient. Sie soll erstarrte Elemente von Theorie und Praxis wieder verflüssigen und ihre verschütteten Formen wieder freilegen.

"Die Entwendung führt die vergangenen kritischen Folgerungen, die zu ehrenwerten Wahrheiten erstarrt sind, d.h. in Lügen verwandelt wurden, wieder der Subversion zu." (Debord, These 206)

Die Entwendung kam auch bei Debords Theoriebildung zum Einsatz. Das wird weiter unten deutlicher. Die Entwendung war dabei die Praxis der Theorie, die in eine Theorie der Praxis umschlagen sollte, um allen revolutionären Kämpfen Munition zu liefern.

Der dialektische Begriff der Negation ist einer der bedeutendsten im Konzept der S.I. In ihm offenbart sich die gesamte Kritik der materialistischen Dialektik an den bestehenden Verhältnissen. Debord schreibt über den "Stil der Negation":

"Dieser Stil, der seine eigene Kritik enthält, muß die Herrschaft der gegenwärtigen Kritik über ihre ganze Vergangenheit ausdrücken. Durch ihn bezeugt die Darlegungsweise der dialektischen Theorie den negativen Geist, der in ihr steckt. (...) Dieses theoretische Bewußtsein der Bewegung, in dem die Spur der Bewegung selbst gegenwärtig sein muß, äußert sich durch die Umkehrung der etablierten Beziehungen zwischen den Begriffen und durch die Entwendung aller Errungenschaften der früheren Kritik." (Spektakel, These 206)

Der Geist der Negation ist allerdings nicht zu verwechseln mit Nihilismus. Dazu schreibt Greil Marcus:

"Nihilismus bedeutet die Welt in ihrem eigenen selbstverzehrenden Impuls einzuschließen; die Negation als Tat macht jedem klar, daß die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint; doch nur wenn diese Tat derart weitgreifend angelegt ist, daß sie die Möglichkeit offen läßt, die Welt könnte ein Nichts sein, Nihilismus wie Schöpfung könnten sich dieses plötzlich leeren Terrains bemächtigen. Nihilisten sind Solipsisten: keiner existiert außer dem Handelnden, und nur die Motive des Handelnden sind real.

Negation ist immer politisch: sie setzt die Existenz anderer Menschen voraus, ja sie ruft sie erst ins Leben.

Dennoch sind die Werkzeuge, die zu benutzen der Negationist sich offenbar gezwungen sieht - echte oder symbolische Gewalt, Blasphemie, Ausschweifung, Verächtlichmachung, Verspottung - , auch die des Nihilisten.

Da der Negationist zu beweisen versucht, daß die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint, erkennt er, daß die Welt für andere so ist, wie sie zu sein scheint." (Greil Marcus)

In Debords Stil dieser Negation zeigt sich auch, daß seine Sprache geprägt ist von Marx. Marx' Poesie ist ein eigener Stil. Es ist die permanente Umstellung des Genitivs und die Überkreuzstellung von Wörtern. So schrieb Marx z.B.: "Die Forderung, die Illusion über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf" oder "Die Waffe der Kritik, kann nicht die Kritik der Waffen ersetzen." (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie)

Das ist auch Debords Rhythmus. Gleichzeitig ist es die umkehrbare Kohärenz en miniature, welche die SituationistInnen im Großen einsetzen wollten. Es ist "der aufrührerische Stil", wie es Debord nannte, als er diese Art zu Reden übernahm.

Im Übergang von der I.L. zu der S.I. deutete sich in einem lettristischen Film Debords ein neuer Begriff an, der der S.I. zu ihrem Namen verhalf. Er sagte in diesem Film:

"Eine Wissenschaft der Situationen muß betrieben werden, die der Psychologie, der Statistik, dem Urbanismus und der Moral Elemente entnimmt. Die Elemente müssen in einem völlig neuen Ziel zusammenlaufen: der bewußten Kreation von Situationen. (...) Die zukünftigen Künste werden Umwälzungen von Situationen sein oder nichts." (Debord; Gegen den Film)

Was bedeutete der Begriff "Situation" für die SituationistInnen?

Selbst heute empfinden wir den Begriff der Situation, trotz aller Neutralisierungen des Wortes, als eine Möglichkeit, die etwas Peinliches oder Tragisches zwischen den Menschen bringen kann, in der man sich beweisen könnte oder die man zu nutzen verstehen muß.

Die Situation ist komplex, vielschichtig, mit Unsicherheiten; ein Vorgang, der von mehreren Menschen erlebt wird und die Beteiligten grundsätzlicher bewegt, als z.B. die "Lage" oder die "Gelegenheit".

Weil die Situation die Gegensätzlichkeit von Bewegung und Bewegungslosigkeit, von Gewißheiten und Ungewißheiten enthält, ermöglicht sie eine Aktualisierung und eine Ausbreitung der Konflikte. Sie wird zum Gegenstand einer Reflexion, die vor Erschütterungen und Schrecken nicht bewahrt werden kann.

Im Kunstkontext wird des öfteren vom Situationismus gesprochen. Für die SituationistInnen war dies ein sinnloses Wort, ein Mißverständnis oder eine vom Gegner lancierte Fälschung. Sie wollten kein Ismus sein, denn Ismen sind Ideologie. So wurde das marxistische Denken in den sogenannten Arbeiterstaaten verfälscht.

Greil Marcus schreibt über die Situation folgendes:

"Jede Situation soll die Umgebung für Experimentalformen eines revolutionären Spiels darstellen; jede Situation soll ihren Schauplatz verändern und zulassen, daß sie selbst verändert würde. Die Stadt sollte für die I.L. fortan nicht mehr als Kulisse von Waren und Macht erlebt werden; man sollte sie nun als Feld der "Psychogeographie" empfinden, und diese würde eine Epistemologie (Erkenntnistheorie; Anm. CB) des alltäglichen Lebens und Raumes sein, die es einem gestattet, "die exakten Wirkungen der gegebenen oder bewußt eingerichteten, direkt auf das Gefühlsverhalten des Individuums einwirkenden geographischen Umwelt" zu verstehen und umzuwandeln." (Greil Marcus)

Dies führt uns direkt zum kulturrevolutionären Programmpunkt der SituationistInnen:

"Die Probleme der kulturellen Schöpfung können nur noch in Verbindung mit einem neuen Vorstoß der Weltrevolution gelöst werden. (...) Das Ziel einer revolutionären Aktion auf dem Gebiet der Kultur kann es nicht sein, das Leben wiederzugeben und zu erklären, sondern es zu erweitern." (Debord, Rapport)

"Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situationen - das heißt der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft." (Debord, Rapport)

Die konstruierte Situation wie auch das Umherschweifen sind Mittel einer Art situationistischen Psychologie. Die psychologische Identifizierung des Zuschauers mit dem Helden muß gebrochen werden, um den Zuschauer aktiv werden zu lassen, durch die Provokationen seiner Fähigkeiten, das eigene Leben umzugestalten. Doch auch die Konstrukteure von Situationen werden hineingezogen, auch sie werden dadurch verändert: "So ist die Situation dazu bestimmt, von ihren Konstrukteuren erlebt zu werden" (Debord, Rapport)

Situationen müssen flüssig gehalten werden. Die Plätze müssen beweglich gehalten werden, und die Aktion kann nicht das einzige Geschehen sein.

Somit mußten Sicherheitsmaßnahmen gegen die Verfestigung installiert werden, die zugleich äußere, wie auch innere Gefahr ist. Dies sollte durch die Kollektivität des Projekts und einer konsequenten Enttäuschungsstrategie geschehen, d.h. "mit allen hyper-politischen Mitteln die bürgerlichen Glücksvorstellungen zerstören." (Debord, Rapport) und das dérive sollte eine befremdete unromantische Eile lehren.

Diese Arten von Einwirkungen auf das Verhalten der Beteiligten einer konstruierten Situation, "das in Verbindung mit den anderen wünschenswerten Aspekten einer Revolution der Lebensgewohnheiten steht, kann zusammenfassend als die Intervention von Spielen neuer Art definiert werden." (Rapport) Das situationistische Spiel ist, im Unterschied zur klassischen Spielaufassung, eine "radikale Verneinung der Charakterzüge des Wettkampfes und der Trennung vom gewöhnlichen Leben. Demgegenüber entspricht das situationistische Spiel einer moralischen Wahl, die eine Parteinahme für das ist, was das zukünftige Reich der Freiheit und des Spiels gewährleistet." Dieser Wille zum spielerischen Schaffen "muß auf alle bekannten Formen der menschlichen Beziehungen erweitert werden und z.B. die geschichtliche Entwicklung von Gefühlen wie Freundschaft und Liebe beeinflussen." (Rapport) Dieses Spielen soll aber mit äußerstem Ernst durchgeführt werden, denn "gegen alle rückläufigen Formen des Spiels, die die Rückkehr zu einer infantilen, immer mit einer reaktionären Politik verbundenen Entwicklungsstufe darstellen, müssen wir die experimentellen Formen des revolutionären Spiels behaupten." (S.I. Nr.1)


Zum nächsten Kapitel Zurück zum Inhaltsverzeichnis Zurück zur S.I. Homepage